Und alles beginnt in Wien

 

Ein glänzendes Gewebe aus Gegensätzen, das an die Begriffe „Traum und Wirklichkeit“ sowie „Tod und Eros“ erinnert – und auch an große Namen der europäischen Kulturgeschichte. Denn kaum in einer Weltstadt florierten und florieren Kunst und Kultur ähnlich wie in der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt. Man denke hier nur an die Weimarer Klassik. Doch auch am Beginn des 19. Jahrhunderts konzentrierten sich in dem Zentrum Wien Höchstleistungen der Literatur, Malerei, Architektur und Musik in einer Dichte, die ihresgleichen sucht.

Wen wundert es also, dass mich die Welt der Klassik früh erreichen konnte? Bereits als Vierjährige besuchte ich eine Aufführung von „Peter und der Wolf“ – und mein erstes Bilderbuch, das ich mir wünschte, war eines, das die Geschichte von Mozarts „Zauberflöte“ wiedergab. Ich erinnere mich: damals konnte ich noch nicht lesen, doch die Musik – mein Vater hat mir, die ich noch im Kindergarten gewesen bin, einige Arien vorgespielt – hat es mir sofort angetan. Beim Auspacken des Geschenkes jedoch war ich ein wenig enttäuscht: „Ich dachte, das ist ein großes dickes Buch!“ sage ich dementsprechend auf dem Super-8-Video, auf dem ich mit meinem „Zauberflöte“-Bildband, den ich noch heute manchmal ansehe, abgelichtet bin. Wie auch immer: So jedenfalls begann eine große Liebesgeschichte.

Ein viel einfacheres, volksliedhaftes Musikstück jedoch hat mich auch im Besonderen geprägt. Es heißt „Zwei Königskinder.“ Ich habe das Lied das erste Mal als Kind gehört. Ich weiß noch: Ich bin auf dem Wohnzimmerboden gesessen. Ja, ganz genau erinnere ich mich: Der grüne Teppich. Meine kleinen Füße. Die großen Hände der Mutter und eine Musikkassette. Alles ist sehr klar und einfach gewesen damals.

„Was ist mit denen?“ habe ich gefragt.

„Die ertrinken“, ist die rasche Antwort gewesen. Sie kam ein wenig rau.

„Warum?“

„Sie lieben sich“, hat meine Mutter gemurmelt, die etwas gestresst war und eigentlich nicht mit mir reden wollte

„Aha“, habe ich geantwortet.

Ich weiß noch: Ich hörte die Kassette mit dem Lied „Zwei Königskinder“ mit meinem Bruder gemeinsam an. Irgendwie passte das zu der Stadt Wien, in der ich aufwuchs und in der in jeder Ecke ein Toter zu lauern schien. Ich weiß noch: Als Kind bin ich süchtig nach den Klängen gewesen, habe wiederholt auf „Play“ gedrückt. Bald schon eierte die Kassette und dann riss das Band. Was für ein spannender Anblick! Dachte ich, als die Schlaufen sich im Kassettenrekorder verfingen. Wie Schlangen sahen sie aus! Schließlich rissen sie entzwei. Ich weiß noch: Auch in mir ist etwas gerissen, immer wieder, bei jedem erneuten Hören. Viel später schrieb ich den Roman „Zwei Königskinder“, der diese Volksweise verarbeitete. Doch damit nicht genug. Auch das Lied selbst habe ich nachgedichtet wie folgt:

 

Königskinder (remixed)

 

Zwei die

ein Wasser teilte

trotz Liebe

zu tief

Könntest schwimmen

ich mach Licht

dir aus Liebe leuchten

so tief

Wer bläst da

die Kerzen aus

einer ertrinkt

in Tiefe

wohin

Fisch ihn mir

ich küss die Lippen

ich krank an der Trauer

mach die Augen auf

und spring

aus Liebe

trotz Liebe

in Liebe

tief

 

 

***

Weiterführend →

Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Vertiefend zur Lektüre empfohlen, das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Sophie Reyer und A.J. Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.