Wer alles liest, hat nichts begriffen […]. Es ist nicht notwendig, den ganzen Goethe zu lesen, den ganzen Kant, auch nicht notwendig den ganzen Schopenhauer; ein paar Seiten Werther, ein paar Seiten Wahlverwandtschaften und wir wissen am Ende mehr über die beiden Bücher, als wenn wir sie von Anfang zum Ende gelesen hätten, was uns in jedem Fall um das reinste Vergnügen bringt.
Thomas Bernhard, „Alte Meister“
Bernhards Texte sind einerseits gallige oder komische Ergüsse gegen alles und jeden, andererseits aber voller autobiographischer Bezüge. Obwohl es zahlreiche Parallelen zwischen den Protagonisten und Bernhard gibt, handelt es sich immer um Rollenprosa. Es geht in den Romanen oft um die Tragik, die Vereinsamung, die Selbstzersetzung eines Menschen, der nach Vollkommenheit strebt. Ein immer wiederkehrendes Thema ist die Vollkommenheit der Kunst sowie ihre Unmöglichkeit, da nach Bernhard Vollkommenheit den Tod bedeutet. Bernhard stellt philosophischen Passagen sehr oft alltägliche, oft geradezu banale Betrachtungen gegenüber.
In seinen Werken lässt sich Bernhard immer wieder über die „bessere Gesellschaft“ Wiens und Salzburgs aus, die er oft mit ätzender und schmähender Kritik überzieht. Österreich beschreibt er gern als Land der Spießer, wobei er die Verhältnisse in finstersten Farben schildert. Viele Personen des öffentlichen Lebens, aber auch zahlreiche Bekannte Bernhards, fühlten sich parodiert oder verunglimpft. All dies bewirkte, dass viele seiner Veröffentlichungen und Theaterpremieren Skandale und Tumulte auslösten.
Österreich selbst ist nichts als einBühne / auf der alles verlottert und vermodert und verkommen ist / eine in sich selber verhaßte Statisterie / von sechseinhalb Millionen Alleingelassenen / sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige / die ununterbrochen aus vollem Hals nach einem Regisseur schreien
Heldenplatz (Drama)
Viele Romane und Erzählungen Bernhards bestehen zum Großteil oder zur Gänze aus Monologen des Ich-Erzählers und einem fiktiven stummen oder beinahe stummen Zuhörer oder Schüler, wie zum Beispiel dem Erzähler Franz-Josef Murau und seiner Schülerfigur Gambetti im späten Hauptwerk Auslöschung. Anlässlich einer häufig überspitzt und grotesk dargestellten Alltagssituation oder einer von ihm selbst konstruierten philosophischen Frage referiert der Ich-Erzähler seine Sicht der Dinge. Auch in Bernhards Dramen findet sich häufig eine ähnliche Konstellation.
Bernhard spielt bevorzugt mit den Stilmitteln der Suada, der monologisierenden Rede, der Polemik und des Kontraintuitiven. In den Prosawerken erzielt Bernhard eine Distanzierung von den Tiraden des Monologisierenden, indem er sie den stillen Zuhörer sozusagen aus zweiter Hand wiedergeben lässt. Einschaltungen wie „sagte er“, „so Reger“ etc. sind kennzeichnend für den Stil Bernhards.
Die Monologisierenden sind nicht selten Wissenschaftler, durchweg – um Bernhards eigene Terminologie zu verwenden – „Geistesmenschen“, die in langen Schimpftiraden gegen die „stumpfsinnige Masse“ Stellung beziehen und mit ihrem scharfen Verstand alles angreifen, was dem Österreicher traditionell „heilig“ ist: den Staat selbst, den Bernhard gerne als „katholisch-nationalsozialistisch“ bezeichnet; anerkannte österreichische Institutionen wie das Wiener Burgtheater, allseits verehrte Künstler etc.
Bernhards Hauptfiguren setzen in kategorischen Behauptungen ihre Aussagen oft absolut. Kennzeichnend für die Monologe seiner Protagonisten sind Ausdrücke wie „naturgemäß“, „alle“, „nichts“, „immer nur“, „fortwährend“, „durchaus“ etc. Von vornherein schalten sie mit Sätzen wie „darüber gibt es doch gar nichts zu diskutieren“, „da kann man sagen, was man will“ u. ä. jeden möglichen Einwand aus.
Ein besonderes stilistisches Merkmal von Bernhards Prosa ist eine Technik der Steigerung, der Übertreibung, des sich Hineinsteigerns beziehungsweise des sich Versteigens in fixe Ideen, was jeweils sehr kunstvoll durch eine Wiederholungstechnik orchestriert wird, in der bestimmte Themen, Versatzstücke und abfällige Bezeichnungen mit hoher Frequenz wiederholt (aber immer auch leicht variiert) und dabei immer weiter gesteigert werden. Diese Technik Bernhards ist Kompositionsmethoden der Barockmusik und der seriellen Musik verwandt, solche Passagen sind oft komische Höhepunkte seiner Werke. Seine Sprache hat eine starke melodische Wirkung.
Dieser Melodiker ist nun verstummt. KUNO trauert um einen Nonkonformisten.
Weiterführend →
Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.