Das Grenzenlose ist dem Menschen näher.
Hanns Cibulka, Sanddornzeit
Nirgendwo in der DDR war die Utopie des Grenzenlosen, nirgendwo die Imagination, den im Transzendenten liegenden Westen in sich zu spüren, größer als auf dem Sylt des Ostens: Am Weststrand Hiddensees gelang dem Bürger der DDR, wenn er bei klarem Wetter die Küste der dänischen Insel Møn sieht, die unio mystica mit sich und dem Drüben – keine Mauer, nur die Ostsee.
Schon auf den fast autoleeren Alleen Mecklenburgs spürte ich, wie ich selbst in diese Gefühle hineinwuchs, wie ich Westliches hinter mir ließ, Wesentliches vor mir hatte. Der Tourist, der ich im Westen naturgemäß war, ging im Osten unter in der Erfahrung des west-östlichen Wahns.
Neben mir im Auto saß mein Begleiter aus Halle, wo ich als Kind aufwuchs, bis ich sechs Jahre vor dem Bau der Mauer in den Westen kam. Seit über zwanzig Jahren verlebte mein Begleiter den Sommer auf Hiddensee. Vor Sonnenaufgang überquerten wir den Rügendamm. Als die Sommersonne aus dem Ostsee-Osten aufstieg, standen wir auf dem berühmten Kreidefelsen der Stubbenkammer, und wie das Licht die noch graue Wand des Königsstuhls weiß anmalte, als stünden wir in C. D. Friedrichs Atelier, da hoben sich alle Widersprüche von Ost und West dialektisch in gesamtdeutscher Romantik auf. Plötzlich liefen Soldaten der Nationalen Volksarmee durchs Bild. Ein Dutzend dunkelblauer Trainingsanzüge durchbrach die hundert Meter weit entfernte Kasernenmauer.
In Schaprode warteten wir auf das Boot nach Vitte. Überm Bodden lag „dat söte Länneken“, Hiddensee, im Morgendunst. Auf der Landkarte sehen die Umrisse der 17 Kilometer langen Insel wie ein Seepferdchen aus.
Um 8 Uhr 30 wird laut Fahrplan unser Boot ablegen, in einer Stunde.
Der „bewachte Parkplatz“ am kleinen Hafen war mit Wartburgs und Trabbis überfüllt. Der Parkplatzwächter gab mir die beiden Adressen privater Parkplätze am Ortsrand. In eingezäunten Wiesengrundstücken und Gärten standen Hunderte von Autos. Das Parken kostete 1 Mark pro Tag. Leicht verdientes Geld. Kapitalismus-Nischen dieser Art waren der Kitt im Gefüge der sozialistischen Planwirtschaft. Ich zahlte mit Westgeld.
An der Anlegestelle stand die große Traube wartender Werktätiger, die Urlaub machten, vor der Gangway, dem Nadelöhr, durch das, wie wir schon ahnten, nicht jeder kam. Den Vortritt hatten die Hiddenseer, dann die Rückkehrer mit Unterkunft auf Hiddensee, dann die Neuankömmlinge mit Gepäck, zuletzt kamen die Tagesbesucher an die Reihe. Die Überfahrt kostete 1,50 Mark.
Die „Breege“ war völlig überladen. Dutzende von Reisewilligen mussten auf das nächste Schiff der „Weißen Flotte“ warten. Die Dieselmotoren des 1935 in Dienst gestellten Boots brachten alles zum Zittern, das Boot legte ab, wühlte sich mit Schlagseite durch den Bodden, schon bald war das viel zu tief im Wasser liegende Heck von Meerwasser fast knöcheltief überspült. Doch das Vertrauen der Passagiere war berechtigt. Nach zwei Stunden Fahrt über Neuendorf nach Vitte auf Hiddensee erreichten wir das trockene Ufer.
Der Sohn unseres Vermieters holte uns mit einem Gepäckfahrrad ab. In wenigen Minuten waren wir vor dem alten Kapitänshaus mit dem dicken Dach aus Rohr angelangt. In einem neu gebauten Bungalow wurden wir einquartiert: Wohnschlafzimmer, Kochnische, und WC mit Waschbecken – so komfortabel wohnten nur wenige Inselurlauber. Die Unterkunft kostete 12 Mark pro Nacht und pro Person, im Preis inbegriffen waren zwei kleine Fahrräder, das gehörte schon zum Service der ganz besonderen Art.
Die 18 Quadratkilometer große Insel war die exklusivste deutsche Insel.
Die meisten der jährlich etwa 40.000 Gäste wohnten durchschnittlich 14 Tage lang in den Heimen des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) oder einzelner Volkseigener Betriebe (VEB). Meist nur einmal im Laufe des Arbeitslebens, wenn überhaupt, gehörte man zu den Auserwählten, auch dann, wenn man eigentlich gar nicht wollte; kaum einer ließ sich eine Hiddensee-Reise, schon aus Prestige-gründen, entgehen.
Es gab 2600 Betten für Urlauber, das ist die doppelte Einwohnerzahl. 1300 Heimbetten und 900 Betten in teils privaten Vertragshäusern vergab der FDGB-Feriendienst, der geringe Rest wurde rein privat vermietet. Wer ein Haus hat, vermietet im Sommer die kleinste Kammer, auch die eigenen Räume, wenn Familienmitglieder selber auf Reisen sind. 250.000 Tagesgäste kamen jährlich auf die Insel. Das war alles in allem nicht viel, verglichen mit dem Massentourismus westlicher Inseln.
Vor dem letzten Krieg, als noch wenig Inselbetrieb war, kamen viele illustre Gäste: Gerhart Hauptmann, der hier sein Sommerdomizil hatte, Heinrich von Stephan, Fritz Reuter, Alfred Kerr, Asta Nielsen, Joachim Ringelnatz, Billy Wilder, Albert Einstein, Ernst Barlach, Stefan Zweig, Max Reinhardt, Käthe Kollwitz, Gustav Hertz, Erich Heckel, Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Walter Felsenstein . . . und nach dem Krieg, nach der „Befreiung unseres Landes durch die ruhmreiche Rote Armee“ (Herbert Ewe, Hiddensee. Rostock, 4. Aufl. 1986, S. 219), wurde die Insel den Werktätigen übergeben, als Surrogat fürs Volk, als Trost und Rechtfertigungsgrund für das zu ferne Capri. Auch das ZK der SED richtete sich ein Haus in Kloster ein, und die beliebte Gaststätte „Haus am Hügel“, die hier war, musste schließen.
Über die grob verlegten Betonplatten aus der Hitlerzeit (Transportwege für den ökologischen und militärischen Küstenschutz, bis hin zum zerstörten Kriegsbunker am Enddorn, dem Nordkap der Insel) holperten die oft recht klapprigen Fahrräder.
Es gab zwei Fahrradverleiher (in Vitte mit 300 und in Neuendorf mit 60 Rädern), jeden Morgen an der langen Schlange wartender Kunden leicht erkennbar. Die Betriebsheime und Privatvermieter stellten weitere Räder bereit, doch gab es für viele kein Rad.
Nur selten sah man eines der 40 auf der Insel zugelassenen Dienstfahrzeuge. „Die Attraktion von Hiddensee ist das Nichts“, schrieb die DDR-„Tribüne“ (Nr. 69/1989). Das ist die Wahrheit. „Keine Nachtbars. Keine Diskothek, keine Straßenbahn . . . keine Geschäfte ohne Schlange. Und natürlich kein Textilzwang. Hiddensee hat den längsten FKK-Strand der Republik. Nacktbaden gehört heute zum guten Ton.“ Das war es, das Gefühl der kleinen Freiheit, der Abwesenheit von Mode- und Konsumzwang. In der Überfülle der Zeit genossen die Inselglücklichen das Inselglück, ganz losgelöst vom sozialistischen Festland, die launischen Wetternuancen im meist milden Sommerklima, die Unplanbarkeit des manchmal täglichen Wechselbads kalter und warmer Meeresströmungen. Schon vor Sonnenuntergang floss das Bier, schluckte so mancher ‘Braunen’ zum Einheitspreis. Noch schöner wurde dann die Sonne, wenn sie, vom Osten her kommend, auf der Transitstrecke des himmlischen Überb(l)aus emigrierend, im Westen golden unterging. Da zischte die Ostsee, da zischte der letzte Tropfen im Hirn auf, ehe Schlag 22 Uhr die „Inselbar“ der Ost-CDU in Kloster dichtmachte. Auch die „Heiderose“ des FDGB, zwischen Neuendorf und Vitte, machte dann dicht, die „Stranddistel“ in Neuendorf, der „Enddorn“ in Grieben – alle löschten punkt 10 das Licht. Selbst die Grillfeiern, Unterhaltungsabende und Tanzfeste in den FDGB-Heimen endeten dann. Doch der am Morgen in der Kaufhalle zu Vitte gekaufte Stoff, aus dem die nächtlichen Inselträume waren, verlängerte die Sperrstunde ins privatistisch Grenzenlose.
Die fünfzehn öffentlich zugänglichen gastronomischen Einrichtungen der Insel gehörten fast alle dem FDGB oder VEB-Heimen oder waren wenigstens deren Vertragshäuser. Manche dieser Lokale standen der allgemeinen „Verkostung“ mittags und abends, manche nur abends, zur Verfügung. Daneben gab es reine Heimkantinen.
Der „Klausner“ ist das älteste, 1911 erbaute, Restaurant. Am Nachmittag, genau 15 Uhr, wurde Kaffee und eine Sorte Kuchen für die Dornbusch-Spaziergänger serviert. Viertel vor drei stellten die Servierer und Serviererinnen, bevor der ziemlich elegante Kellner im klassischen Dress des bürgerlichen Zeitalters die Bestellungen aufnahm, mit lautem Geklirr die Tassen auf die Tische im Freien, unverwüstliches Kaffeegeschirr aus dickem Porzellan, noch dicker, noch härter als das beim Militär. Dazu Aluminiumlöffelchen und steinharte Zuckerstücke. Auf jeden dritten Tisch kam Kaffeesahne. Der Personalmangel im Dienstleistungsbereich war auf der Insel groß. Wer wollte hier schon längere Zeit leben, wenn nicht als Gast oder Vermieter?
„Die Hiddenseer verdienen ihr Geld im Schlaf“, schrieb die „Tribüne“. Monat für Monat verdienten die privaten Vermieter am Traum von der Exklusivität. Hier gewesen zu sein, das war was. Die Insel ist auch wirklich schön. Ich kenne keinen Flecken im total touristifizierten Westen, der so natürlich ist, so still, so wohltuend altmodisch (die neueren Strandkörbe waren allerdings aus Plaste). So allsympathisch leer von sinnloser Bäderbetriebsamkeit, so wilhelminisch-erinnerungsvoll, so heil ist kaum ein Ort.
Alles Staatliche war hier so fern – wenn man von den selten zu sehenden Schiffen der Seepolizei oder vom Haus des ZK der SED einmal absieht. Ich habe nicht einmal einen der beiden Volkspolizisten gesehen. Kein Transparent der Partei. Nichts wesentlich Westliches drängte sich hier auf. Kein Westauto, kein Westbürger. Man war unter sich, gehörte endlich einmal nicht, wie zum Beispiel in Rumänien oder Bulgarien, zur letzten Touristenklasse. Überhaupt schien alles Politische vollkommen abwesend. Allerdings nicht immer.
Im einzigen privaten Restaurant, im „Haus am Meer“ in Neuendorf, wurde ich Zeuge des Unmuts über östliche Lebensdefizite. Das Nachschubschiff „Hoffnung“ versorgte die Insel überdurchschnittlich gut. Wenn aber dann doch die letzten Liter Fassbier trüb waren, rotierte die ewige Litanei von den ewigen Wartezeiten für Trabant und Fahrschule. Doch wurde die Kritik nie wirklich grundsätzlich, und hier auf der Insel wie in Leipzig, Potsdam, Frankfurt/Oder, Dresden, Cottbus, Greifswald oder Berlin, Hauptstadt der DDR, schwieg jeder die gefährlichen Gedanken in sich hinein. Die Küche im „Haus am Meer“ hielt, was die Menukarte versprach. Ich wählte unter den etwa zwanzig Speisen eines der beiden Fischgerichte, Makrelenfilet. Es schmeckte gut, und inzwischen gab es wieder klares Bier.
Die Sonne sank im Westen. Das Bier zischte leise im Hirn. Noch eine gute Stunde bis zum Inselzapfenstreich. Vor den Tischen im Freien stellten zwei junge Leute ihre Inselaquarelle aus. Auf einmal ging da ein Mädchen lang, mit Rucksack, ganz allein. Es war bestimmt mit dem letzten Boot gekommen. Sie fragte vergeblich nach einem Hotelzimmer, wanderte weiter, fahrradlos, ging zum Kiefernwald an der Seeküste, in die Traummaschen am Rande des großen Netzes DDR.
Mein Begleiter trieb mich zum Aufbruch an. Wir öffneten die Schlösser unserer Räder und fuhren zurück nach Vitte. Noch war es hell genug, noch war die „Heiderose“ geöffnet. Auf zu einem vorletzten Bier dort! Die Stimmung in der „Heiderose“ war gut. Am Nachbartisch saß die Sekretärinnen-Schickeria aus Berlin, Hauptstadt der DDR, in hautenger Ledermode und bestellte ein „Rotkäppchen“ nach dem anderen. Wir Bier. Noch nüchtern genug, zischte mir der Gedanke durch den Kopf: Die Schönheit der Frauen ist überpolitisch. Im Zehn-Uhr-Zapfenstreich erlosch auch dieses Licht. Unsere Räder stolperten über die Betonplatten zurück nach Vitte, wo das letzte Bier der frühen Nacht zum tiefen Inselschlaf hinüberleitete.
Ich dachte an „Hoffnung“, das Nachschubschiff im Bodden. Ich dachte an den weiten Ostseeblick nach Westen auf der Dornbusch-Steilküste an der „Hucke“, wo die Insel einen Knick macht, am Hinterkopf des Seepferdchens. Bodden, Ostsee, Bodden . . . Ostsee – ich schwankte hin und her, o Mann, das Bier.
Nach Sonnenaufgang las ich Hanns Cibulkas „Sanddornzeit“, ich las seine schönste Zeile über Hiddensee: „Das Grenzenlose ist dem Menschen näher.“ Meint er das wie ich? Und wenn die Grenzen wirklich einmal fallen, was dann?
„Nur stille, stille, dass es nicht.“
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Was Bergmann mit Hanns Cibulka teilt ist eine langsame sinnliche Annäherung, genaues Beobachten und behutsames Erlesen der Kulturgeschichte in neuen Räumen. Sie versuchen die „Verwandtschaft aller Dinge“ sichtbar zu machen. Eine Würdigung von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Eine weitere literarische Verarbeitung der Ostseeinsel finden Sie hier.