Willbert Neumann hat ein Leichenschauhaus besucht, um zu recherchieren. Jeder angehende Arzt muss Körper auseinander nehmen und die inneren Organe studieren, niemand findet das anstössig. In der Pathologie bekommt er ein anderes Bewusstsein für Menschen. Sein Interesse ist nicht von krankhafter Natur, sondern reine Neugierde. Er geht nach der Arbeit oft in Cafés und beobachtet das Verhalten der Menschen; ihn interessieren alle Formen des Daseins.
»Alles ist Veränderung, das ist das einzige, worauf wir zählen können«, schildert Sharon Hoog die einzige Gewissheit, über die sie verfügt, die Realität ihrer Träume in Bildern. Sie stanzt als Partytalk ihre Worte aus der Grammatik wie Plätzchen aus dem Teig und nippt an ihrem Drink, um die Krümel in den Schlund zu spülen. Phönixe aus der Zigarettenasche. Ein Märchenwesen, vom Himmel gefallen und doch ganz von dieser Welt. Sie streicht ihre langen Haare wie einen Vorhang aus dem Gesicht und beglaubigt eine Individualität, die er nicht glauben kann. Eine erotische Aussenseiterin, die allen und keinem gehört, nur sich selbst. Die Identitätsfrage zwischen Mann und Frau geht nicht über Sexualität hinaus. Die psychologische Annäherung hat wahrscheinlich noch nicht stattgefunden, geistige und romantische Haltung sind dieser Spezies wichtiger.
Willi dreht sich zu Sharon herum. Hass ist für seinen fröstelnden Schauder ein falscher Begriff. Er sucht zu begreifen, doch er greift daneben. Greift in das schwarze schalltote Nichts der Leere. Sieht in glasige Augen. Das aufgequollene Gesicht einer mondän zerstörten, exzentrischen Schlampe. Ihre Zunge gleitet wie ein schläfriges Reptil aus ihrem Mund und tastet gierig über die trockenen Lippen. Manche Frauen scheinen mit High Heels auf die Welt gekommen zu sein, so mühelos wirkt ihre Fortbewegung auf diesen Stelzen. Als Sharon jedoch mit ihren langen, sehnigen Beinen auf ihn zustöckelt, sieht das so unfallgefährlich aus, dass er jederzeit einen Zusammenbruch erwartet. Während bei Frauen höherer Gesellschaftsschichten immer alles aussehen soll, als sei es angeboren, sind Hauswartsdiven stolz darauf, mit ihrer Hände Arbeit Wirkungen zu erzielen. Da darf die Schminke pastos sein und der BH sichtbar einschneiden. Männliche Crossdresser orientieren sich daher am Sonntagsstyling von Bardamen: da ist Natürlichkeit gar nicht erst gefragt. Sharon muss nicht attraktiv sein, um erotisch zu wirken. Es verwirrt ihn, dass sie ihn in hoffende Verlegenheit stürzt.
»Wenn Dinge so sind, wie sie wirklich sind, warum soll man versuchen, sie anders darzustellen?«, versucht sie ihn mit ungestümer Beweglichkeit in ein Gespräch zu verwickeln. Zieht ihre Sätze wie Girlanden auseinander, schmeckt jedes Wort ab und scheint erst mal darum herum zu schleichen, um zu gucken, wo die Anhängerkupplung für das nächste ist.
»Die anderen wollen von einem, was man eigentlich von ihnen will«, knurrt er mit überkandidelter Blasiertheit, mit der er auch four–letter–words wie ein artifizielles Eigenprodukt im Gaumen schnalzen lässt. Sein Männlichkeitskostüm ist ein Akt wahnhaft gewordener sozialer Identität. Männer wissen viel, haben viel im Kopf, aber sie wissen nichts über den Körper. Sie sind verkrampft. Stehen das durch, weil sie wie alle Helden ahnen, dass jenseits dieses Lebens eine grosse Leere klafft. Manche Männer werden niemals Helden. Und manche Helden niemals Männer. Aber manche haben das Glück beides zu werden.
Sharon und Willi sind Beziehungsjunkies, ihre Küsse ähneln Bissen von Vampiren, die sich gegenseitig aussaugen, jeder davon eine Infusion. Das Gespenstische an ihrer Beziehung war die Fähigkeit, sich gegenseitig Brennglas zu sein und die tollsten Sachen beim anderen auszulösen und zu spüren. Sie lösten gegenseitig ihre Urängste aus, hörten beim anderen die Flöhe husten und verloren sich dennoch in Distanz. Sie waren nie normal zusammen, die normale Paar–Langeweile, bei der man bestrumpfsockt und im Wollpullover auf dem Sofa sitzt und die bestellte Pizza verzehrt, dann über Probleme redet, um anschliessend händchenhaltend durch die Vorstadt zu laufen und romantisch den Mond anzuheulen, diesen Beziehungsalltag gab es bei ihnen nicht. Entweder sie waren selig oder kreuzunglücklich, dazwischen gab es nichts.
Wenn Willi einen wunden Punkt bei ihr traf, war sie sofort ein hilfloses, verängstigtes Kind, unfähig zu reagieren, abgesehen von Vorwürfen, Tränen und Gezerre, unfähig einen Ausweg zu sehen, in elementarer Abhängigkeit zitternd. Wenn sie in dieser Verfassung war, wurde Willi sogleich auch wahnsinnig und reagierte ebenso elementar, eisig und grausam. Das trieb sie tiefer ins Elend, ihn tiefer in den Selbsthass. Sobald Sharon wieder stabil und locker wurde, war er es auch wieder, egal, was zuvor an bösen Worte gefallen waren. Deshalb denkt Sharon, dass noch alles bei ihnen drin ist. In jede Richtung. Den Eifersuchtsmord würde sie ebenso wenig ausschliessen wie die glückliche Paarung. Die Vögel haben sie an diesem Tag schon sehr früh geweckt. Leider löst alles, was mit überformter Natur und landschaftlicher Schönheit zusammenhängt, grosse Wehmut bei ihr aus. Das dumme Los der Liebenden: alles hängt mit dem Geliebten und gemeinsamen Erinnerungen zusammen.
Willi ist an diesem Abend von geradezu explosiver Schüchternheit. Er wendet sich ab, sieht auf Fenster der gegenüberliegenden Wohnmaschine. Metropolen machen aus Menschen nervöse Monaden. Wohnraum steht leer. Zurück bleibt ein steinernes Korsett. Die alte Stadtstruktur implodiert.
Sharon umflort eine Aura konservierter Mädchenhaftigkeit. Sie gehört in die Tradition der weiblichen schönen Schmerzensfrau, ein Ballerinentyp: Die Haare zurück, unter den Augen dunkle Schatten, das Ephebische lugt hervor. Sie lächelt und zieht die Oberlippe zu einem gediegen herablassenden Gesichtsausdruck hoch und beschwört damit Erinnerungen als sich Aggregatzustände änderten.
Lebensgier trifft auf Lustangst. Sharon setzt auf den objektiven Zufall, preist die Langeweile als Zugang zum Wunderbaren und glaubt an die Zaubermacht der Liebe, an die Begierde und daran, wie schwer es ist, beides zu trennen. Oder zu vereinen. Sie ähnelt einer Kobra, die ihr Opfer einpendelt. Hält mit ihren kalten Augen Ausschau nach dem nächsten Opfer. Will geliebt werden, ist auf einer permanenten Suche. Weg von der Existenz, die nur Behauptung der Männer ist. Sharon ist eine Projektionsfläche, alles was Männer in ihr sehen wollen, ein unwiderstehliches Niemandskind, das in der jeweiligen Situation immer genau das erfüllt, was der Mann wünscht. Willi kommt damit nicht zurecht. Hoffnung ist ein Mangel an Aufklärung. Die hypermodernen Menschen stürzen gerade deshalb in tiefe Verzweiflung, weil sie den schrecklichen Sinn ihres Gewordenseins begreifen. Sie wählen die nächstliegende Sinnlöschung. Kaum vorstellbar, dass sie sich je geliebt haben. Eine im Konjunktiv versandete Erinnerung. Sie sind an dem Punkt angelangt, an dem ihr Streit im Schweigen weitergeht.
»Wer in der Gegenwart nichts findet, muss hinter sich selbst zurückgehen. Es gibt nicht nur sich selbst erfüllende Prophezeiungen, sondern auch sich selbst erfüllende Hysterisierungen. Neigen wir nicht alle dazu, die Vergangenheit nach Massgabe unserer Gegenwart zu beurteilen?«, reisst ihn Rajiv Singh, der Gastgeber, aus den Gedanken und reicht einen Drink.
Zum Aperitif werden von den Multiköchen gewürzte Heuschrecken und eine Auswahl von Würmern gereicht. Es gibt kein essbares Tier, das nicht ausgeklügelten Quälereien ausgesetzt wird: Fischen wird der Gaumen vom dreifachen Widerhaken zerrissen; Hummer werden lebend ins kochende Wasser geworfen, weil ihre Todeszuckungen dem Fleisch eine besondere Würze verleihen. Krabben wird bei der Geburt eine Schere amputiert, damit die andere besonders gross und deformiert wächst und mehr Fleisch für den Feinschmecker liefert, Aus den vergrösserten Lebern von Gänsen macht man cremige Paté. Um dem Körper frisches Protein zuzuführen, werden Leckerbissen wie Mehlwurmsalat in Gurkenschälchen, geröstete Skorpione an grünem Spargel und frittierte Taranteln aus dem Bereich der Wimmelscharen serviert. Als Hauptgang kann man zwischen Elefanteneintopf, Känguruhfilets und Giraffengulasch wählen. Später gibt es Heuschrecken– und Gemüsetempura, Mehlwurmbällchen in scharfer Tomatensauce und Wurmhäppchen mit Pflaumendipping. Die Gäste der Festivität müssen darauf achten, vor dem Verzehr der Heuschrecken deren Füsse zu entfernen, weil sie zwischen den Zähnen hängen bleiben. Willi wendet sich Rajiv, weil er das Gefühl hat, eine Antwort schuldig zu sei.
»Wusstest du, dass Gottesanbeterinnen der Phrase vom kopflosen Sex eine ganz neue Bedeutung geben? Während der Kopulation verzehren sie den Kopf ihres Partners. Dessen Nervensystem ist so eingerichtet, dass es auch ohne Kopf noch weiter Sex hat. Das Weibchen kaut auf dem Kopf des Männchens herum, aber der Akt geht weiter«, parliert er. Sein Körper wirkt fast ausgedörrt von seinem gänzlich asexuellen Arbeitsethos. Unter der Oberfläche seines Gesichts brodelt etwas Unheimliches. Manchmal entlädt es sich, in heftigen Zuckungen oder einem irren Blitzen der Augen.
»Bis du dreissig bist, brauchst du ein Fitness–Center und einen guten Lehrer, danach einen Therapeuten einen guten Chirurgen. Sich Vergegenwärtigung einzugestehen, ist meist ein schmerzhafter Prozess. Unsere Schere im Kopf hat nicht nur den Schmerz gekappt. Das Schlimmste am Alter ist die Erinnerung an die Zeit, als man jung war. Unseren geistigen und körperlichen Zerfall stellen wir uns nur selten als den Weg zum Tod vor«, schreckt Rajiv zurück. Sie haben voneinander noch immer Auffassungen, die durch keinerlei Sachkenntnis getrübt sind. Eigentlich hat er keine festen Überzeugungen. So kann er sie leichter ändern. Hat jahrelang am Rad gedreht und erst an diesem Abend gemerkt, dass er drinsitzt. Der alte Kollege wirbt dafür zu akzeptieren, was eines Tages so oder so gekommen wäre. Tiefgang auf einer Party ist für seinen Geschmack zu viel des Guten. Bei Champagner perlen Belanglosigkeiten, in denen sich Menschen zu Kenntnis und Kontur bringen. Sie übersetzten das Grundlose, die Abgehobenheit und das Hinfällige ihrer sozialen Schicht in Einzelschicksale. Ihre Stunden sind sinnlose Stunden, im Wissen um die absolute Künstlichkeit ihrer Existenz. Man sollte sich in Gesellschaft immer in Andeutungen ergehen, damit man einen Grund hat, später darauf zurückzukommen.
»Der befreiende Dilettantismus ist Anfang und Ende zugleich!«, gibt Rajiv den ernsten Narren unter lauter lustigen und zieht seine Gäste in den Bann der Unentscheidbarkeit. Weil er an knallharte und offene Debatten gewöhnt ist, fällt ihm der Grad an Konformität, Befangenheit, betretenem Schweigen und sich selbst herabsetzendem Philosemitismus auf. Er wandelt sich vom expressiven Selbstzerstörer zum romantisch gebrochenen Schöngeist und ist dabei ein blendender, auf unterhaltsame Weise eitler Mann.
»Die Ergriffenheit bringt uns weiter. Gerade Pathetik hilft uns, mit den ernsten Dingen umzugehen«, parodiert Willi Party–Dialoge, die in ihrer herzzerreissenden Schmachtigkeit kaum an Inhaltsleere zu überbieten sind. Die Menschen sind nicht zum Klagen geboren, aber es scheint, als wären sie dafür geschaffen. Sie sind zu allem fähig, zum Leiden, zum Verzweifeln, zum Hoffen… nur nicht zum Handeln. Sie leben von der Sucht nach Spass und Geld. Die Vorstellung, dass Wissen nicht nur Macht, sondern auch Gefahr darstellt, ist in ihrer Geschichte tief verwurzelt. Sein Drang zum Persönlichen entspricht nicht dem Drang zum Subjektiven, um eine Szene zu vermeiden verabschiedet er sich still von Sharon.
»Was schlägst du vor?«, erkundigt sich Rajiv mit einer Klammerbemerkung, weil er nicht weiss, was sein Kollege damit exakt meint.
»Ich werde möglichst unauffällig verschwinden.«
Willi lässt die Tür ins Schloss fallen. Greift eine Flasche uerige aus seinem Kühlschrank. Lässt den Schnappverschluss plöppen. Hält das Glas schräg, um möglichst viel von dem leckeren Obergärigen einschütten zu können. Schaltet die Aufzeichnungsmaschine an. Die herzlich hölzerne Einladung seiner Eltern zum Essen stimmt ihn heiter. Er schaltet die Maschine ab. Lässt die angebrochene Flasche auf der Fensterbank stehen. Auf dem Weg zum Schlafplatz übersieht er mit einem Blick die trostlose Ödnis seines Lebens, die ganze Nutzlosigkeit all seiner Bestrebungen. Der Mensch ist als Tier gescheitert. Er hat sich durch die Verwendung von Werkzeugen von der Natur distanziert. Durch jede Tätigkeit mit einem Wurf–, Schlag– oder Schneideinstrument wuchs dieser Abstand. Parallel zu diesem Erfolg der harten Mittel entwickelten sich die weichen Mittel, das Sprechen und das Zeichnen. Damit vergrösserte sich nicht nur der Aktionsradius, sondern auch sein Bewusstsein. Heraus kam der Hobo Sapiens, ein ehemaliges Tier, das von Kultur abhängig wurde, weil es ohne Technik nicht mehr überlebensfähig war. Die Geschichte der Technik ist eine Naturgeschichte der Naturdistanzierung, die mehr denn je weitergeht. Die hypermodernen Menschen verwechseln Leben mit Überleben. Ihr Wahnsinn hat die Grundstruktur einer Selbsterhaltungspanik auf der Basis einer falschen Selbstbeschreibung. Sie halten sich mit ihrer Selbsterhaltung auf und haben sich mit den tatsächlichen Gefahren noch nicht bekannt gemacht. Sie zimmern sich eine falsche Identität zurecht und kämpfen für sie, bis zum bitteren Ende. Willis Leben schwankt wie ein Perpendikel zwischen Schmerz und Langeweile. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Arme zu verschränken und zu versuchen einzuschlafen. Er fällt in voller Bekleidung auf die Daunen, der Illusion wegen, sofort und jederzeit flüchten zu können. Alles zurücklassen und Tränensäcke als einziges Gepäck mitnehmen. Schlaf ist der Bruder des Todes, nach einem kurzen Schlaf wird ewiges Erwachen sein. Es wird keinen Tod mehr geben, weil der Tod sterben wird. Ihn interessiert an der Welt nurmehr eins: ob sie für einen Witz taugt.
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Monster, Short-Stories von A.J. Weigoni. Krash-Verlag 1990
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. Daher sei sei Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash ebenso eindrücklich empfohlen wie Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten.
→ Die Monster Short-Stories waren die Vorstufe zu Zombies, Erzählungen von A.J. Weigoni, Edition Das Labor 2010
→ KUNO übernimmt zu Zombies einen Artikel von Kultura-extra aus Neue Rheinische Zeitung und fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur. Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.