Geburtstagsgeschenk

 

Die ersten Sonnenstrahlen bringen den Tau zum Schmelzen. Nebelschwaden steigen auf. Umhüllen eine Reihenhaussiedlung am Stadtrand. Die Stille erinnert hier an ein Totenhaus. Als würde man einmal pro Woche lebendig zu Grabe getragen. Maria schleicht durch den Vorgarten. Legt das Geschenk behutsam vor die Tür. Geht den Feldweg zurück. Weicht einem asthmatischen Dauerläufer aus. Steigt auf ihr Motorrad. Lässt die Vorstadt voll wohlgenährter Biografien hinter sich. Das Leben beginnt sie auszuscheiden.

Maria fährt zum Dom. Kniet nieder. Der Beichtstuhl ist frei. Sie nutzt diese Dienstleistung. Entfaltet in einem inständigen, zunehmend selbstquälerischen Monolog das Psychogramm einer neurotisch–überspannten Beziehung … die Gleichung war denkbar einfach. Er liebte sie. Sie liebte ihn. Er akzeptierte ihre kommunikative Kompetenz. Sie sein konstruktives Misstrauensvotum. Er macht ihr klar, dass die Institution Ehe dazu gut ist, aneinander zu leiden. Sie nehmen sexuelle Befriedigung gegen den Stolz, selbige verursacht zu haben. Er betrachtet sie mit liebloser Gleichgültigkeit als Fremdkörper. Alles in ihrem Leben geschah aus Angst vor dem Schmerz, deshalb wurden sie immer mehr zu Schauspielern ihrer Gefühle. Sie lebten zusammen. Oft auch miteinander. Er wünscht sich ein Kind. Sie will ein Kind von ihm. Sie scheut die Konsequenz, bevorzugt die Fristenlösung und macht ihn dafür verantwortlich…

Priester Ludgerius hört mit gleichgültiger Anteilnahme zu. Erkennt das Muster des depressiven Heroismus, bei dem die Glückskonstruktion auseinander bricht: Frauen hoffen auf den richtigen Mann und bekommen nur den zweckmässigen. Männer opfern dafür jede Solidarität mit den Freunden. Der neue Begriff für diese Marginalisierung: „ein gutes Investitionsklima schaffen“. Er hat diese Sündenbekenntnisse schon oft gehört, lauter Elegien über Gefühle, die nicht ins Bild passen, über Begehren und Sehnsüchte, die im Keim erstickt werden, weil es für die, die sie empfinden, keinen gemeinsamen Ort gibt; selten ist ein Frevel wirklich neu. Der Priester verabscheut die austauschbaren Module der Menschelei und verachtet die Freibeuter des Elends. Mitleid hat er nur mit geistig Zurückgebliebenen. Sie sind die menschliche Oberfläche, auf die er seine Gefühle projiziert. Nach vollzogenem Oralsex schiebt er ihnen liebevoll eine Hostie in den Mund und segnet sie. Kirche erscheint ihm als Sinnbild einer Schönheit, die dem Untergang geweiht ist, ein idealer Ort, wie geschaffen für Bilder von Sehnsucht und Ausschweifung, Wunsch– und Albträumen. Die katholische Kirche ist ein frauenloses Terrarium mit vielen Homosexuellen. Wer keine Affären mit Frauen hat, hat beste Chancen, auf der kirchlichen Karriereleiter aufzusteigen. Das oberste Gebot für den gesamten Klerus lautet: Keine Skandale mit Frauen. Die Struktur der katholischen Kirche begünstigt damit Homosexualität. Die Homosexuellen unter den Kirchenfürsten haben kein Problem mit dem Zölibat. Sie wollen im Gegenteil mit Zähnen und Klauen an ihm festhalten, um ihr ideales Biotop nicht zu verlieren. Heterosexuelle Priester wie er haben unter der monosexuellen Struktur des Vatikans zu leiden, weil nur für sie die Aufhebung des Zölibats interessant wäre, für den Vatikan hingegen nicht. Zwischen Wahrheit und Lüge zu entscheiden, langweilt Ludgerius; er legt nurmehr die Konstruktionsbedingungen von Wahrhaftigkeit und Konstruktion offen.

Affekttote Stickluft. Sie sind Teil einer Generation, die zwischen den historischen Umbrüchen verloren gegangen ist. Die Welt ist mehr als das Bild von ihr; unter der erkennbaren Oberfläche schlummern tiefere Wahrheiten. Ihr Leben, eine Illusion, hinter der sich die Realität der Träume offenbart. Eine Liebe jenseits aller Pheromone. Maria begreift, dass sie einsame Wölfe waren, die sich trockene Wortgefechte lieferten, durchsichtiges Desinteresse heuchelten und die Schwächen des anderen austesteten, bis sie sich ihren Gefühlen überliessen. Dass eine Frau von einem Mann in die Freiheit geführt wird, machte sie misstrauisch, weil diese Freiheit darin bestand, dem vorgegebenen Frauenbild aus freien Stücken zu entsprechen. Sie versucht im Gespräch mit Pater Ludgerius schlechte Gefühle zu verdauen, indem sie den Hass aufisst. Sie zerkaut den Groll, schleust ihn durch ihr System wie durch einen grossen Entgiftungsfilter. Nach der Beichte ist ihre grimmige Heiterkeit völlig klar, die zersplitterte Welt erlaubt nicht mehr, von endgültig gewonnenen oder verlorenen Kämpfen zu reden. Sie ist erschöpft von den Schlachten, die längst als gewonnen gelten und verlässt das Kirchenschiff. Betätigt den Kickstarter und rauscht Richtung Süden davon.

Manche müssen auf die Bühne, um herauszufinden, wer sie sind. Anfangs ging es Jupp darum, Musik politisch zu machen, sozial bewusst, politisch wütend und symbolisch militant. Jupp hat das Reihenhaus von den Tantiemen gekauft. Seine Musik war härter, die Parolen auch. Er spielte amtliche Bekanntmachungen mit Gitarren, von wirklicher Politik hatte er keine Ahnung. Sein Vokabular speiste sich aus dem Reservoir der Fantasie, er folgte dabei seiner Intuition, bediente sich der Mittel des Films, der Musik und moderner Technologien. Versuchte alles Überflüssige zu vermeiden, leitete seine Gedanken mit präziser Logik her und führte sie mit Gewandtheit aus. Jupp merkte schnell, dass die westlichen Gesellschaften wenig Wert auf intellektuelle Meinung legen. Macht und Geld sind im Kapitalismus das Mass der Dinge. Wer kein Geld oder keine Macht hat, dessen Meinung hat keinen Wert. Die ganze Radikalität des Punkrocks war eine künstlerische Ausdrucksform. Punk war linksradikaler Glamrock.

Jupp eilte der Ruf voraus, ein wandelndes Kraftwerk, ein ganz beschleunigter Denker zu sein: Rocker, Theoretiker und Lebenskünstler. Er war Trendsetter des Nonkonformismus, hat Stimmungen ausgedrückt, die in der Luft lagen und war kaum in der Lage, einen Durakkord zu spielen. Als Sprecher der Punkbewegung hatte er die zentrale Idee der Rockkultur, dass der Performer und seine Rolle so identisch wie möglich sein sollten, dass also die Rocker authentisch von sich selbst erzählten, und damit auch die zentrale Lüge dieser Kultur entdeckt.

Auf Partys fingen Frauen an, ausdrucksstark zu tanzen, wenn sein Album aufgelegt wurde, das eine Stimmung beschwor, in der die Nacht noch jung war und das Begehren am richtigen Fleck. So lernte er Maria kennen. Sie umkreiste ihn voller Unschuld, die alles vermag, und verführte ihn durch den Witz des Einfalls. Bei ihm arbeitete ein kalter Verstand, der sich kokett mit Wahnsinn parfümierte, bei ihr tickte der helle Wahnsinn, der sich in glasklaren Sätzen ausdrückte. Ihre Codes gestalteten sich so abgehoben wie seit dem Rokoko nicht mehr und gleichzeitig waren die Authentizitäts–Poseure süchtig nach Echtheit. Ihre Liebe funktionierte dysfunktional. Die Liebesalgebra war logisch und hochabstrakt, denn die Unmöglichkeit ihrer Zweisamkeit war so sicher, wie in dem Wort gemeinsam sein Gegenteil schon enthalten ist: einsam.

Die Scherbenspur ihrer Beziehung ist lang, und die Splitter stecken noch in den Schuhsohlen. Der Differenzfeminismus hat dem Prinzip des survival of the prettiest zum Durchbruch verholfen. Die Semiotisierung der Schönheit wurde für Maria zu einer fatalen Konsequenz: Schönheit ist nicht ehrlich, sondern im Wettrüsten der Geschlechter Täuschung und Schein. Diese Schönheit hat einen sexuellen Ursprung und dient einer Verschiebung und Sublimierung der genitalen Erregung ins intermediäre Sexualziel des Schauens. Ihr Körper wurde vom Ornament der Kleidung verhüllt. Schön zu sein erhöht ihre Paarungschancen, aber nicht unbedingt den Reproduktionserfolg. Weil sie als Schwan nicht immer mit einem Raben tanzen wollte, verliess sie ihn.

Von dem Versprechen der Schönheit bleibt für Jupp wenig: ein Motor sozialer Anpassung. Schönheit wird in den verträumten Alltagswelten der Hypermoderne zur Pflicht, Gegenstand einer Biopolitik körperlicher Attraktivität. Die sowohl mit vergeblicher Arbeit am eigenen Körper als auch mit der Vergänglichkeit erreichter Schönheit assoziierten Depressionen und Körperbildstörungen stellen für Jupp ein verzerrtes Echo seiner Trauerarbeit dar, mit der Schönheit für die klassische Ästhetik notwendig verbunden ist. Weil er den rebellischen Gestus des Befreiungskämpfers als Pose empfindet, lebt in einem fingerhutkleinen Vorort, zurückgezogen im Bergischen Land. Flieht die Stadt, ihren Verführungen, und der eigenen Geschichte. Lies sich auch von einem Produzenten nicht mit einen Scheckbuch ködern. Retro–Phänomene meinen nie die Originale, sondern ihre medialen Nachbilder. Migration, Marginalität und Borderline–Existenzen wie er, werden als schmückendes Ornament in ein Radical–Chic–Konzept implementiert, um im kapitalistischen Verwertungskreislauf neue Märkte zu erschliessen, die auf dem Gefügigmachen und der Ausbeutung dieses Anderen beruhen.

Ohne äussere Anspannung fehlt Jupp ein Ferment, das er durch die innere Struktur ersetzt. Dass der Zwang zur Konzentration die Produktion fördert, gehört zu den Paradoxien seiner Kreativität. Er verteidigt die Kultur des Wortes gegen die Bilder und Bytes. Im Lesen und Schreiben steckt etwas, das weit über eine blosse Technik hinausgeht. Es verändert seinen Geist, gibt ihm analytische Kraft. Lesen bedeutet für ihn eine Beförderung des rationalen Denkens. Er ist nie ohne entsichertes Notizbuch zu sehen und sperrt jede Beobachtung in seine literarische Vorratskammer. Jupps Frisur ist genau die Spur zu weit herausgewachsen, um noch chic zu sein. Er öffnet die Haustür. Blinzelt in das Tagesgestirn. Die Sonne scheint, da sie keine Wahl hat, auf nichts Neues. Beim Griff zur Tageszeitung stolpert er über das Päckchen. Eine Hutschachtel. Eingeschlagen in gelbes Packpapier. Sein Fuss verfängt sich in der blauen Schleife. Verwundert trägt er das Geschenk in das Haus. Mit einem lebhafteren Mienenspiel, in dem sich Intelligenz, Brutalität und infantile Züge vermischen, stellt er das Präsent auf den Küchentisch. Streift die Schleife ab. Löst das Packpapier. Öffnet die Hutschachtel. Greift hinein. Befördert ein gläsernes Gefäss an das Tageslicht. Eine glibberige Masse, die einmal ein Kind hätte werden können, schwimmt in einem Reagenzglas. Sein Gesicht ist der Schauplatz des Schreckens. Er stützt seine Arme in die Hüften, wie schwangere Frauen es gerne tun. Je weiter sich Jupp von einer Sache entfernt, desto schärfer kann er beim Zurück–Sehen die Optik einstellen. Das Objekt erstarrt im Angeblickt–Werden, wird von seinem Blick eingefroren und aufgespiesst wie ein getrockneter Schmetterling.

 

 

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Monster, Short-Stories von A.J. Weigoni. Krash-Verlag 1990

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. Daher sei sei Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash ebenso eindrücklich empfohlen wie Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten.

Die Monster Short-Stories waren die Vorstufe zu Zombies, Erzählungen von A.J. Weigoni, Edition Das Labor 2010

KUNO übernimmt zu Zombies einen Artikel von Kultura-extra aus Neue Rheinische Zeitung und fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur. Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.