Isoliertes = freies Denken?

 

Isoliertes Denken, das nicht wirkt, also nicht mit der Praxis verbunden wird, liegt brach. Lebensverweigerung kann dem Denken nicht nützlich sein. Alles Denken, insbesondere das über gesellschaftliche Verhältnisse, muss vom praktischen Leben angeregt und in ihm erprobt werden. Außerdem ist fraglich, ob Denken so richtig und wichtig ist, dass es die eigene Existenzweise rechtfertigt, fraglich auch, ob es der Welt wirklich fehlen würde. In der Behauptung, Denken werde vom gelebten Leben verunreinigt (Kompromisse, Inkonsequenzen etc.), liegt die falsche Annahme, beruflich tätige Menschen bis hin zu den Politikern könnten nicht richtig denken.

Die Welt, in der wir leben, mag noch so viel Absurdes aufweisen, aber sie ist nicht verkehrt; es ist die einzige Welt, die wir haben. Es gibt in dieser Welt viel Gutes und viel Freude, und es gibt die Liebe – es ist geradezu absurd, diese Aspekte des Lebens sich selbst zu verbieten im Namen ‚reinen‘ Denkens.

Soll ich mich als Eremit ganz allein dem Denken hingeben, was ja fast ein Freitod wäre? Oder soll ich mich nicht lieber einrichten in dieser Welt, in der es neben allem Absurden auch viel Gutes gibt?

Politische Verfassungen in zivilisierten Staaten sind keine systemischen Angriffe gegen die Humanität. Verfassungen sind Regelwerke für das bestmögliche und möglichst friedfertige Zusammenleben unterschiedlicher Menschen. Sie sind nicht vollkommen, aber sie sind auch keine reinen Ausgeburten der Ausbeuter. Die Funktion der Presse ist demnach mit Hyde Park nicht hinreichend beschrieben. Die Welt ist komplexer.

Falsch und richtig leben – wer will das entscheiden. Nur ich selbst kann es bestimmen – im Rahmen der biologischen Bedingungen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen ich lebe. Ich klage das Leben nicht an. Die Wirklichkeit ist ja ohnehin nicht für uns gemacht, sondern umgekehrt: Wir müssen uns eine Wirklichkeit erschaffen, in der wir möglichst gut leben können. Aktiv muss man sein, wenn wir einigermaßen gesund und nicht zu alt sind, und nicht passiv hinnehmen und erwarten. Die Erwartung, dass etwas für mich geschieht, ist die schlimmste aller Illusionen. Das Außenseiterdasein funktioniert nur gut, wenn der Außenseiter sich seine Position leisten kann, ohne sehr zu leiden. Der Mensch ist nicht gemacht, um das zu erzwingen, was er für Wahrheit hält oder für Gerechtigkeit. Außenseiter haben ihren Sinn, aber Änderungen kamen und kommen am ehesten von denen, die solidarisch für eine Sache arbeiten, die die meisten überzeugt.

Ich stimme Pascal zu, dass es – schon aus rein logischen Gründen – sinnvoller ist, anzunehmen, es gebe einen Sinn im Leben, als das Gegenteil zu glauben (lassen wir Gott hier mal als eine spezielle Deutung beiseite). Die Existenz-Wahrscheinlichkeit eines Sinns ist größer bei Annahme des Sinns. Auch ist manche Selbsttäuschung oft besser als das, was wir für die nackte Wahrheit halten. Der Glaube an die Herrschaft des Absurden macht das Denken unnütz, er nährt die Gefahr, zum Misanthropen zu werden.

 

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.