Anna rauchte wieder. Sie hatte aufgehört, kurz, bevor wir uns kennengelernt hatten, und auch nach unserer Trennung hatte sie nicht wieder angefangen. Das hektische Saugen an der Zigarette war das erste, was mir auffiel, nachdem ich in ihrer Wohnung stand, Monate nach meinem letzten Besuch. »Ich muss dir was zeigen«, hatte sie getextet, und jetzt stand ich hier, direkt nach meiner Arbeit und nach einer hastig hingenuschelten Begrüßung.
Anna und ich waren vier Monate zusammen gewesen. Wir hatten uns bei einer Computerschulung kennengelernt und eines kam zum anderen. Es wurde eine Mittelgewichtsbeziehung ohne besondere Höhepunkte und Herausforderungen – und mit einem vorhersehbaren Verlauf.
Eines Abends hatten wir wieder einmal bei ihr in der Wohnung gegessen, es gab Rotwein und sie hatte etwas Indisches gekocht. Anna sagte: »Ich finde, insgesamt läuft es bei uns nicht so toll.« Und ich sagte: »Finde ich auch.« Also trennten wir uns wieder. Wir waren noch nicht zusammengezogen, es war keine große Sache. Wir blieben nicht unbedingt befreundet, aber im Kontakt.
Das letzte Mal hatten wir uns bei der Beerdigung ihrer Mutter gesehen. Sie hatte sich eines Tages mit Bekannten zum Kino verabredet und war nicht erschienen. Als sie auch am nächsten Morgen nicht zu erreichen war, wurde Anna von den Freunden alarmiert. Sie fand ihre Mutter vollständig bekleidet und mit ausdruckslosem Gesicht auf dem Wohnzimmerboden ihrer kleinen Wohnung liegend. Ob es nun ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall war, blieb vom Ergebnis her unerheblich. Annas Vater war schon vor vie- len Jahren gestorben.
Ich kannte Annas Mutter, eine überschlanke, passionierte Raucherin mit milchig-grauem Teint und grotesk dunkelrot gefärbten Haaren. Sie wurde 68 Jahre alt. Als ich ihr das erste Mal begegnete, arbeitete sie noch stundenweise als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei. Manchmal erzählte sie von ihrer Arbeit. So vertrat diese Kanzlei eine Frau, die von den Hinterbliebenen eines Exhibitionisten auf 100.000 Euro Schmerzensgeld verklagt worden war. Dieser, ein 76 Jahre alter ehemaliger Finanzbeamter, hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, ziellos in den späten U-Bahnen mitzufahren. Wenn Frauen, egal welchen Alters oder Aussehens, in seinen Wagon einstiegen, holte er sein Genital aus der Hose, um umgehend hektisch und ergebnisorientiert zu masturbieren. Bei dem späteren Zivilverfahren stellte sich heraus, dass der Mann deshalb mehrfach zu Geld- und Be- währungsstrafen verurteilt worden war.
So war es auch an dem Abend, an dem die Mandantin von ihrer Spätschicht im Krankenhaus in die U-Bahn ein- stieg. Der Pensionär sah sie, nestelte nervös an seiner Hose, griff beherzt zu und tat, wonach ihm der Sinn stand. Die meisten Frauen reagieren auf so ein Erlebnis angeekelt oder traumatisiert. Nicht jedoch die Beklagte. Als Krankenschwester in einer psychiatrischen Ambulanz war sie einiges gewohnt, also stand sie kurzerhand auf, betrachtete sich die Dinge kurz aus der Nähe und meinte dann: »Ist diese mickrige Nudel etwa alles, was du zu bieten hast? Da würde ich mich als Mann ja schämen, so einen kleinen Schniepel überhaupt an die Luft zu lassen.« Der Exhibitionist erstarrte, riss sich kurzerhand die Hose hoch, und da inzwischen die nächste Haltestelle erreicht war, verließ er eiligen Schrittes den U-Bahnwagen, nicht ohne auf dem Bahnsteig aufgrund der unzureichend gesicherten Hose übel zu stürzen.
Die Krankenschwester war zwar durchaus amüsiert, zeigte den Vorgang aber dennoch an, was sich angesichts des späteren Zivilverfahrens als Fehler erweisen sollte. Denn natürlich konnte die Polizei mühelos ermitteln, wer der notorische Genitalbelüfter war. Dieser war von dem Erlebnis in der U-Bahn so konsterniert gewesen, dass er sich noch am selben Abend ein heißes Bad einließ, vierzig Beruhigungstabletten und drei volle Wassergläser Wacholderschnaps zu sich nahm und umgehend wieder erbrach, ehe er sich dann in der Badewanne beide Pulsadern aufschnitt, was laut Autopsie-Bericht aber auch erst im dritten oder vierten Anlauf gelang.
Seine einzige Tochter, eine alleinstehende Grundschulrektorin, erfuhr durch die postmortale Anzeige wegen »Erregung öffentlichen Ärgernisses« von den Hintergründen des letzten Abends ihres Vaters und verklagte die Anzeigen-Erstatterin. Durch ihr unsensibles Verhalten in der U-Bahn sei der 76-Jährige in den Selbstmord getrieben worden, zumal habe sie als Fachkraft aus der Psychiatrie erkennen müssen, dass der vermeintliche Übeltäter allenfalls bedingt zurechnungsfähig war.
Annas Mutter schied aus der Kanzlei aus, bevor ein Urteil gesprochen war, und inzwischen war sie tot, seit zwei Monaten schon. Jetzt hatte Anna, die eigentlich keinen Fernseher besaß, ein altertümliches Gerät in ihrem kombinierten Wohn-/Schlafzimmer aufgebaut, daneben einen Videorekorder, den sie, wie sie mir später erzählte, mit einiger Mühe auf Ebay ersteigert hatte. In ihn steckte sie jetzt eine abgegriffene VHS-Cassette, die mit blauem Filzstift Bornholm 81 beschriftet war.
»Dort sind sie damals immer gerne hingefahren«, bemerkte Anna knapp und drückte auf Start.
Nach einigen kurzen, griseligen Szenen zeigten die grob- körnigen Aufnahmen Annas Mutter deutlich jünger, mit kurzen, vollen schwarzen Haaren und einem violetten Tank-Top bekleidet, ansonsten nackt. Neben ihr erschien ein Mann mit ausgeprägten Geheimratsecken, älter, komplett unbekleidet und mit einem imposanten Bauch. »Das ist definitiv nicht mein Vater«, bemerkte Anna nüchtern. Im Video lachte Annas Mutter halb verlegen, halb amüsiert. Sie hatte ein Koloraturlachen, das sich quasi selbst nach hinten aufrollte und das mir immer sehr gut gefallen hat.
Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie das Genital des Unbekannten in die Hand, stülpte den Mund darüber und machte das, was in dieser Situation sachdienlich ist – zunächst ohne nennenswerten Erfolg. Schließlich ging es doch, Annas Mutter öffnete die Beine und der Dickbäuchige legte sich dazwischen. Für die nächsten anderthalb Minuten zeigte die Kamera nur seinen hektisch zuckenden, sehr voluminösen und doch faltigen Hintern. Schließlich rollte sich der Mann mit hochrotem Kopf von Annas Mutter herunter, murmelte etwas Unverständliches in die Kamera und Annas Mutter lachte wieder.
Anna drückte die Stopp-Taste.
»Sie hat mir nie von diesem Film erzählt. Dabei haben wir immer über alles reden können.«
Ich fühlte mich unbehaglich. Anna hat die Angewohnheit, beim Sex sehr klare Anweisungen zu geben, die keinen Widerspruch duldeten, was mich regelmäßig überforderte. Ob sie darüber wohl auch mit ihrer Mutter gesprochen hatte?
Es war nicht immer einfach mit Anna gewesen. Vielleicht hing es damit zusammen, dass ein früherer Freund ihr bescheinigt hatte, sie habe »einen ausdruckslosen Arsch«. Das hatte sie sehr verletzt. Als wir noch zusammen waren, fragte sie mich immer wieder: »Habe ich wirklich einen ausdruckslosen Arsch?« und ich antwortete natürlich mit »Quatsch!«, was sich auch im Rückblick leider nicht besonders souverän anhört.
Sie hatte inzwischen Tee gemacht: »Es ist nicht das, was man im Nachlass seiner Mutter zu finden erwartet. Eigentlich hatte ich nur die fünf Krügerrand-Münzen gesucht, von denen sie immer erzählt hat.«
Ich erinnerte mich an meine Zeit als Messdiener. Damals war der Altpfarrer in meinem Dorf überraschend gestorben. Als wir sein Zimmer im Obergeschoss des Pfarrhauses ausräumten, entdeckte ich in seinem Nachttisch ein abge- griffenes Heft mit Hochglanzbildern. Es zeigte auf achtundvierzig Seiten pubertierende Jungen nackt beim Fußball- spielen an einem Strand. Den schwedischen Aufdruck Fotokonst kann man offenbar weit auslegen.
Anna stand jetzt auf dem Balkon, hatte die nächste Zigarette angezündet, die Tasse Tee in der anderen Hand. Ich legte meinen Arm um ihre Schulter, mehr aus Hilflosigkeit als aus Zuneigung.
Sie sagte leise: »Ich kann das doch nicht löschen. Es ist das einzige Video, das ich von ihr habe. Und auf dem ist sie fast nackt und …«
»… fickt herum«, brachte ich den Satz zu Ende.
Wir wussten beide nichts zu sagen. Nach einer Pause meinte sie: »Wie kann sie mir das antun? Ich werde mir das nie wieder ansehen können. Ich werde nie wieder Sex haben, weil ich diese Bilder dann immer vor meinen Augen haben werde.«
Ich dachte nach. »Es ist ja eigentlich kein Porno, mehr ein … Dokumentarfilm.«
Sie drehte sich zu mir.
»Ein Dokumentarfilm? Meine Mutter vögelt auf Video mit einem Typen, den ich nie gesehen habe und du meinst, das wäre ein Dokumentarfilm?« Ich sagte nichts, doch allmählich gefiel ihr der Gedanke: »Dokumentarfilm? So etwas, was auf arte läuft? Nach dem Motto: ›Meine Mutti und ihr fetter Ficker. Eine kritische Kopulations-Exegese aus den frühen Achtzigern‹?«
Ich zuckte mit den Schultern, weil ich nicht wusste, ob sie jetzt lachen oder weinen würde. Anna ging zum Fernseher zurück und startete den Film erneut, ließ ihn mit schneller Geschwindigkeit vorlaufen, was sehr komisch wirkte, ins- besondere der jetzt überdreht-hektisch zuckende Hintern. Anna grinste.
Ich weiß nicht mehr genau, wie der Abend weiter ging. Aber einige Wochen später bekam ich von ihr kommentarlos per E-Mail einen Link geschickt. Ich klickte darauf und es öffnete sich ein Videoportal, das für rezeptfreies Viagra und ältere Hausfrauen mit viel Tagesfreizeit warb. Der Link führte direkt zu einem kurzen Film mit dem Titel Family-Album. Ich musste nicht starten, um zu wissen, was es dort zu sehen gab. Immerhin gab es 68 Prozent positive Bewertungen, obwohl die Bildqualität und die Dramaturgie für erfahrene Nutzer doch einiges zu wünschen übrig ließ.
Mit Anna traf ich mich am ersten Todestag ihrer Mutter auf dem Friedhof. Sie hatte die Krügerrand-Münzen doch noch gefunden und in einen schönen Grabstein investiert, ebenso die knapp 34 Dollar, mit denen sie der Betreiber des Videoportals an den Werbe-Erlösen des Films beteiligte: »Über 80.000 Zugriffe in einem halben Jahr, verrückt, nicht? Ob die Typen ahnen, dass sie längst nur noch eine Handvoll Asche ist?« Sie drapierte die mitgebrachten Blumen in der Vase: »Es würde ihr gefallen, oder?«
Jetzt grinste ich.
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Irgendwas ist immer, Stories von Markus Peters
Mit diesen großartig geschriebenen Prekariatsstories setzt Markus Peters die Tradition der nonkonformistischen Literatur nicht etwa fort, er führt sie zu neuer literarischer Größe. Man merkt seinen Worten an, das sich der Autor auch Lyriker einen Namen gemacht hat, so präzise ist die Sprache gesetzt. Es sind Geschichten von der Schattenseite der deutschen Gesellschaft, die Peters umso heller ausleuchtet, er begibt sich an Orte, zu denen sich die Kommerzsender mit ihren gecasteten Formaten nicht mehr hintrauen. Das Bemerkenswerteste an seinen Satiren, Stories und Kolumnen ist, bei aller Lakonie und Unsentimentalität, die uneingeschränkte Solidarität mit seinen Figuren, ohne jegliche Distanz und Ironie. Unterschichten-Elendsvoyeurismus wie ihn der NDR mit einer getürkten Reportage über den Straßenstrich ins öffentlichen-rechtlichen Gebühren-TV hob, sucht man in seinen Satiren, Stories und Kolumnen vergeblich, es ist vielmehr ein journalistischer Blick auf die Realität. Seine gleichsam essayistischen Betrachtungen leben von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Auf unterhaltsame Weise verpasst dieser Autor dem Alltag in seinen Satiren, Stories und Kolumnen einen wohldosierten Dreh ins Aberwitzige. Einen Vergleich mit der Prosa von Clemens Meyer braucht dieser Autor nicht zu scheuen.
Weiterführend →
Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.