Sie hatte nicht mehr viel am Leibe.
Ein großer, frecher Baum, der hing
Mit allen Blättern an der Scheibe,
So nah, so nah, wie’s eben ging.
Sie faltete, halb nackt, die Hände
Und schmiegte sich im Sessel ein.
In süßem Schauder schwang behende
Ihr kleiner Fuß, so fein, so fein.
– Ich sah die Zweige sich beleben
Und einen kleinen Strahl vergnügt
Ihr Lächeln, ihre Brust umschweben, –
Ein Bienchen, das um Rosen fliegt.
– Ich küßte ihre zarten Füße.
Sie lachte perlend und brutal
In klaren Trillern voller Süße
Ein hübsches Lachen aus Kristall.
Die kleinen Füße, sie entflohen
Rasch unter’s Hemd: „Ich werd dir gleich …!“
– Doch konnte dieses Lachen drohen,
Da mir verziehn der erste Streich?
— Mit einem Kusse konnt ich finden
Ihr Augenlid, das pulsend schlug:
– Verschmitzt warf sie den Kopf nach hinten:
„Na, jetzt ist’s aber wohl genug! …
Mein Freund, ich muß dir eines sagen …“
— Ich warf den Rest in ihre Brust
Mit einem Kuß, der ohne Zagen
Sie lachen ließ mit guter Lust.
— Sie hatte nicht mehr viel am Leibe.
Ein großer, frecher Baum, der hing
Mit allen Blättern an der Scheibe
So nah, so nah, wie’s eben ging.
***
Vor 100 Jahren starb Arthur Rimbaud. KUNO erinnert an den Nonkorformisten mit einem Gedicht. Es besteht aus 8 Strophen von jeweils vier Zeilen mit Kreuzreim. Es beginnt und endet mit zwei identischen Strophen, wobei vereinzelte minimale Varianten der Typographie (Gedankenstriche) in den verschiedenen Textausgaben dem jeweiligen Herausgeber, Drucker bzw. Korrektor geschuldet sein dürften. Das Gedicht selbst entspricht in der Form generell noch den Regeln klassischer französischer Poesie. Das Versmaß besteht durchgehend aus Achtsilblern (octosyllabes). Allerdings gibt es Sätze, die länger sind als der Vers, was erlaubt, den typischen Versrhythmus zu brechen.
Das Gedicht beginnt und endet mit zwei – fast – identischen Strophen: eine skurrile Landschaftssituation mit einem weiblichen Wesen; „fort déshabillée“ lässt auf ein Mädchen schließen, das sich gleichsam die Kleider vom Leibe riss, während indiskrete Bäume sich neugierig an die Fensterscheibe drängen. Gleichzeitig spielt Rimbaud hier mit der Doppeldeutigkeit des Wortes „fort“. Dieses kann „stark“, „vehement“ bedeuten, aber als Substantiv ebenso „Festung“. Hier gilt es eine Festung zu nehmen, die des Weibes, der Weiblichkeit und ihrer Reize, denen der Autor in seiner jugendlichen Hilflosigkeit mit einer Allegorie, ja, mit einer gewissen Verklemmtheit begegnet. Den Bäumen. Sein Blick schweift aus dem Fenster zu Vertrautem, zum Hort des knabenhaften Spiels. Und um der deutlich erotischen Situation gewachsen zu sein, konzentriert er sich mittels der Bäume wiederum weg von dem eigentlichen Sexus und dem nun bevorstehenden Akt hin zu den Blättern der Bäume. Sie werfen ihre Blätter ab und landen bei den Füßen des Mädchens, deren Äderungen denen der Blätter gleichen, „so zart, so zart“ (si fins, si fins). Dieses unbestimmt Unsichere bleibt uns, wiederholt sich ewig im Umgang mit der Weiblichkeit, eine ewig wiederkehrende Schleife der Neueroberung und Kapitulation vor der plötzlich nackten Frau und ihrem Geschlecht. Die letzten vier Zeilen wiederholen die Furcht des jugendlichen Mannes. Die Frau, ein sexuell anziehendes Wesen, das beängstigt. Die letzten vier Zeilen wiederholen die Furcht des jugendlichen Mannes. Gleichzeitig bringt der letzte Vers ein Versprechen und eine Sehnsucht zum Ausdruck: Die erste Liebe, ein ewiger Versuch. Der Refrain soll uns klüger machen.
Rimbaud greift auch in diesem Gedicht seine Lieblingsmotive Brust, Zuflucht und der Blumen-Immondices (etwa: Blumen-Müll) auf. In dem Bild von der Brust, „Fliege zur Rose“, hat die Anspielung auf die Brust emotionalen Wert. Es ist das Kind, das der Zärtlichkeit beraubt ist, das sich symbolisch entwöhnt fühlt. Diese Brust, die ihn in den ersten Texten und besonders in diesem Gedicht fasziniert, wird dann mit den gemeinen Worten Brustwarze, Nippel zurückgewiesen. Die ungewöhnliche „Rosenfliege“ gibt dieser Blume eine Konnotation der Verwesung, die die Assimilation der Blume an das Fleisch bestätigt. Wir finden auch in der Beschreibung des halbnackten Mädchens ebenso eine Allegorie des Übergangs zu den biographischen Frustrationen und Enttäuschungen des Schriftstellers (vor allem durch die Mutter). Dennoch wird der Ton sentimental, wenn er in der letzten Strophe vom Baum spricht, der als Urklang und Repräsentant der Natur sich dem tastenden Knaben und der Geliebten gleichsam aufdrängt.
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.