Silvester bei den Kannibalen

 


Am Silvesterabend setzen
Sich die nackten Menschenfresser
Um ein Feuer, und sie wetzen
Zähneklappernd lange Messer.

 

Trinken dabei — das schmeckt sehr gut —

Bambus-Soda mit Menschenblut.

Dann werden aus einem tiefen Schacht
Die eingefangenen Kinder gebracht
Und kaltgemacht.

Das Rückgrat geknickt,

Die Knochen zerknackt,
Die Schenkel gespickt,
Die Lebern zerhackt,
Die Bäuchlein gewalzt,

Die Bäckchen paniert,

Die Zehen gesalzt
Und die Äuglein garniert.

Man trinkt eine Runde und noch eine Runde.
Und allen läuft das Wasser im Munde

Zusammen, ausnander und wieder zusammen.

Bis über den feierlichen Flammen
Die kleinen Kinder mit Zutaten
Kochen, rösten, schmoren und braten.

Nur dem Häuptling wird eine steinalte Frau

Zubereitet als Karpfen blau.

Riecht beinah wie Borchardt-Küche, Berlin,
Nur mehr nach Kokosfett und Palmin.

Dann Höhepunkt: Zeiger der Monduhr weist
Auf zwölf. Es entschwindet das alte Jahr.

Die Kinder und der Karpfen sind gar.

Es wird gespeist.

Und wenn die Kannibalen dann satt sind,
Besoffen und überfressen, ganz matt sind,
Dann denken sie der geschlachteten Kleinen

Mit Wehmut und fangen dann an zu weinen.

 

 

 

***

Ein entscheidendes Ereignis im Leben Joachim Ringelnatz’ war 1909 der Beginn seiner Auftritte in der Münchner Künstlerkneipe Simplicissimus. Rasch wurde der Unbekannte zum Hausdichter und damit quasi Angestellten der geschäftstüchtigen Wirtin Kathi Kobus und Freund und Kollege der dort auftretenden und verkehrenden Künstler wie Carl Georg von Maassen, Erich Mühsam, Frank Wedekind, Max Dauthendey, Julius Beck, Ludwig Thoma, Emmy Hennings, Roda Roda, Bruno Frank und Max Reinhardt. Die Auftritte waren jedoch sehr schlecht bezahlt. Ringelnatz hoffte mit Reklameversen und dem Tabakladen Tabakhaus Zum Hausdichter Geld verdienen zu können, doch das originelle Geschäft (geschmückt mit einem menschlichen Gerippe) machte nach einigen Monaten Pleite.

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Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.