Die spielerische Offenheit vielfältiger Abschweifungen

Die anderen bilden den Menschen, ich bilde ihn ab; und stelle hier einen einzelnen vor, der recht mangelhaft gebildet ist und den ich, wenn ich ihn neu zu formen hätte, gewiss weitgehend anders machen würde. Doch nun ist er halt so.

 

Vor 400 Jahren starb Michel de Montaigne.  Er gilt als Begründer der philosophisch-literarischen Essays als eigenständiger literarischer Form, den er zur Darstellung seiner Reflexionen über Literatur, Politik, Geschichte, Philosophie, Religion, Fragen der persönlichen Lebensführung, der Kindererziehung u. a. verwendete.

Die Essais entstanden in den Jahren von 1572 bis zu seinem Tod im Jahr 1592. In zahlreichen Abschnitten beschreibt er unterschiedliche Objekte von ebenso unterschiedlichem Rang; diese reichen etwa von konfessionellen Streitfragen über die Medizin und Heilkunde zu grundlegenden Problemen menschlicher Erkenntnis. Themen wie das zwischenmenschliche Zusammenleben, Hexenprozesse und Aberglauben, aber auch Reiten und Pferde werden in kaleidoskopischer Vielfalt nebeneinander behandelt. Leitmotivische Gedanken ergeben sich erst auf den zweiten Blick. Die Essais verändern den Stil des bislang vorherrschenden Traktates. Montaigne verfolgt eine eklektische Behandlung seiner Themen. Angeregt durch antike Autoren und philosophische Schulen, etwa Lukrez und dessen De rerum natura, Cicero, die Epikureer, die Stoa und die Skeptiker, fügte er spontan wirkende, assoziative und volatile Einfälle zu anekdotischen Texten zusammen. Montaigne las die Schriften von Gaius Iulius Caesar um das Jahr 1578, Werke von Francisco López de Gómara in der Zeit zwischen 1584 und 1588, später Texte von Platon und Herodot. Fundamental für die skeptische Grundhaltung in seinen Essais war Montaignes Auseinandersetzung mit dem griechischen Arzt und Philosophen Sextus Empiricus, einem Vertreter des Pyrrhonismus, jener pyrrhonischen Skepsis, die auf Pyrrhon von Elis zurückgeht.

In Montaignes Schreiben lässt sich eine Entwicklung erkennen: Zunächst finden sich häufiger bekannte Textpassagen, loci communes, aus der klassischen Literatur. Diese werden von Schilderungen aus seiner persönlichen Erfahrungswelt abgelöst und münden letztlich ein in die conditio humana, die Ergründung des menschlichen Seins. Montaigne beschrieb sehr präzise seine inneren Empfindungen und soziale Begegnungen. Die Essais folgen dem „Bewusstseinsstrom“ des Autors in die verschiedensten Lebensbereiche. Skepsis gegenüber jeglichen Dogmen, stoische Geringschätzung von Äußerlichkeiten sowie Ablehnung menschlicher Überheblichkeit gegenüber anderen Naturgeschöpfen kennzeichnen die Essais, in denen sich der Autor mit Bereichen wie Literatur, Philosophie, Sittlichkeit, Erziehung und vielem anderem auseinandersetzt. Ihm ging es in erster Linie um den Wert konkreter Erfahrung und unabhängigen Urteilens als wichtigstem Bildungsziel. Darum beschäftigte er sich mit herausragenden antiken Philosophen und Literaten. Die am häufigsten vorkommenden Autoren waren Horaz, Plutarch, Martial, Catull, Lucan, Quintilian und vor allem Cicero, Lukrez, Seneca, Vergil, Properz, Platon, Ovid und Juvenal.

„Wie mein Geist mäandert, so auch mein Stil“ – diese Worte sind charakteristisch für die spielerische Offenheit seiner vielfältigen Abschweifungen sowie der Entwicklung seiner zu Papier gebrachten Gedanken. Seine Schriften sind so reichhaltig und flexibel, dass sie von nahezu jeder philosophischen Schule adaptiert werden könnten. Andererseits widersetzen sie sich noch heute so konsequent jeder konsistenten Interpretation, dass sie eben dadurch deren Grenzen aufzeigen.

Montaigne erweiterte und redigierte seine Essais zeitlebens. Die einzelnen Bände wurden in drei Etappen vollendet. 1579 schloss er Buch I der Essais ab und verfasste Buch II. Am 1. März 1580 wurden die ersten beiden Bände in Bordeaux bei Simon Milanges, einem imprimeur ordinaire du Roy verlegt. Beide Bände waren so erfolgreich, dass sie schon 1582 und nochmals 1587 leicht erweitert nachgedruckt wurden. Der dritte Band entstand zwischen 1586 und 1587. Die Ausgabe von 1588, die auch den Band III beinhaltet, ist als Bordeaux-Exemplar bekannt; sie wurde weiterhin von ihm ergänzt. In den letzten vier Lebensjahren erhielt er dabei Unterstützung von der jungen Adeligen Marie de Gournay. Eine Gesamtausgabe der Essais erschien posthum 1595 in Paris, herausgegeben von seiner Frau Françoise, seiner geistigen Adoptivtochter Marie de Gournay und Pierre de Brach. Grundlage hierfür war die Abschrift eines Manuskripts, die dem letzten Stand der Arbeit Montaignes zu entsprechen schien. Diese Ausgabe wurde immer wieder nachgedruckt.

 

 

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Les essais von Michel de Montaigne, (1580-1588) – Grundlage der heutigen kritischen Editionen ist jedoch das später aufgefundene, weitere Änderungen enthaltende, Original, das „Exemplaire de Bordeaux“.

Anmerkung der Redaktion: Würde Michel de Montaigne im 21. Jahrhundert leben, so er wäre wahrscheinlich der beliebteste Blogger. Nicht nur in Frankreich. Wir kommen ihm näher, indem wir seine Essais lesen. Und zwar Wort für Wort. Oder wir nehmen einen charmanten Umweg und lesen Sarah Bakewells Wie soll ich leben?. Dies ist nicht nur der Titel ihrer ungewöhnlichen Biographie, sondern zeigt zugleicht die Methode an, mit der sich die Autorin dem Denken Montaignes nähert.

Weiterführend → Holger Benkel machte sich gedanken über das denken.

In 2013 unternahm Constanze Schmidt Gedankenspaziergänge.

→ Gleichfalls in 2013 versuchte KUNO mit Essays mehr Licht ins Dasein zu bringen.

In 2003 stellte KUNO den Essay als Versuchsanordnung vor.