Eine Erinnerung an Viktor Matejka

 

Wir gingen auf einem langen roten Teppich die vielen Stufen hinauf zum Festsaal im Wiener Rathaus. Irgendeine Festivität fand dort statt und der ehemalige (kommunistische) Kulturstadtrat Dr. Viktor Matejka war dazu eingeladen. Wie so oft rief er mich an und sagte im barschen Befehlston: „Wiplinger, hol mi ab mit dein Fetzndachlauto“, womit er meinen alten 2 CV-Citroën meinte, „wia foahrn zum Rathaus!“ Und so holte ich ihn wie immer in der Theobaldgasse ab und wir fuhren zu unserem Ziel. „Wann soll ich wieder zum Abholen kommen?“ fragte ich. „Nix da!“, sagte er wieder befehlend selbstverständlich, „du gehst mit!“ „Ich bin aber nicht eingeladen“, entgegnete ich. „Des mocht nix!“ darauf er. „I hob di jetzt hiermit eingladen.“ Der Matejka – ich sagte immer „Du, Herr Stadtrat“, wenn ich ihn ansprach, er sagte zu mir „Du, Wiplinger“ – hatte natürlich keinen feinen Anzug an, kein weißes Hemd, keine Krawatte, so etwas hatte er nicht, ja er verachtete das sogar, er war so wie immer angezogen, „in alten Klamotten“, also mit Cordhose und einem buntgemusterten Flanellhemd und einem etwas schäbigen Rock. Ich war auch nicht gerade gentlemanlike gekleidet. „Pfeif da nix, wia gengan wia ma woin“, meinte er. Und so stiegen wir also langsam, der Matejka war doch schon alt, die Stufen hinauf. Von unten sahen wir oben die Tür zum erleuchteten Festsaal. Auf den Stiegen im oberen Bereich standen immer wieder einige Herrschaften beieinander, die den Matejka auch mit „Guten Tag, Herr Stadtrat“ grüßten. Der Matejka nickte zurück, sagte zu manchem „Servas!“ Ich bewunderte ihn in seiner Souveränität. Und umgekehrt fiel mir eine gewisse Servilität bei den anderen auf, die ihn grüßten und buckelten. Auf einmal dreht sich der Matejka zu mir und sagt: „Wiplinger, merk da ans: ois Oaschlecha!“ – Grandios und bezeichnend für den Viktor Matejka. Er anerkannte keine Autorität, außer wenn sich die einer verdient hatte. Er zollte jenen Respekt, die etwas – möglichst im Künstlerischen oder Wissenschaftlichen – geleistet hatten oder leisteten.

„Heast, wegen dir hob i heit de ganze Nocht ned schlofn kenna“, sagte er zu mir, als er in die Kleine Galerie zu einer Eröffnung, die er vorzunehmen hatte, eintrat. „Wieso?“, fragte ich verdutzt zurück. „Waßt eh, wegen dem Biachl, des d’ ma gschenkt host.“ Es handelte sich um meinen ersten Gedichtband „Borders/Grenzen“, in dem auch Gedichte von mir über die Nazis (Reichskristallnacht), den Holocaust (Die Mazzesinsel) und Auschwitz  drinnen stehen. Auf meine weitere Frage „Warum“ gab der Matejka keine Antwort. „So halt“, sagte er. Ich wußte damals noch nicht, daß er mit dem ersten Transport vom Westbahnhof nach Dachau gebracht worden war und dieses KZ überlebt hatte. Erst später machte er einmal eine Bemerkung mir gegenüber zu diesem Thema, als er sagte: „Und waßt, des Liad Muaß i denn, muaß i denn zum Städtele hinaus, Städtele hinaus, und Du mein Schatz bleibst hier… homma singa miaßn, wia da Zug obgfoahrn is.“

Nach der Ausstellung gingen wir meistens ins Wirtshaus in der Lerchenfelderstraße. Dort aßen und tranken wir. Der Wirt war ein Waldviertler, glaub ich, und das Gasthaus war bürgerlich-gemütlich. Der Matejka fühlte sich dort wohl. Er bestellte immer das Gleiche: ein Pariserschnitzel mit Salat. Wir anderen bestellten und aßen manchmal ein Wienerschnitzel. Worauf der Matejka mir bzw. uns allen einen langen Vortrag hielt, welch eine Barbarei es sei, das gute Fleisch mit angebrannten Semmelbröseln zu essen. Natürlich fuhr ich ihn, so ich nicht zuviel getrunken hatte, dann auch mit meinem Auto wieder heim, zurück in die Theobaldgasse.

Dort war ich auch einmal ein paarmal oben in seiner Wohnung, wenn ich ihn abholte und er noch nicht ganz fertig war. „Wiplinga, kumm auffa!“ befahl er dann. Und ich ging hinauf. Das erste, was ich von ihm hörte, wenn wir in seinem Zimmer waren, war: „Wiplinga, gib ma a Zigarettn!“ Meist erwiderte ich: „Aber, Herr Stadtrat, der Arzt hat dir doch das Rauchen streng verboten!“ Darauf der Matejka: „Hob i di gfrogt?! Oiso gib ma schon ane!“ Er bekam die Zigarette und Feuer von mir, öffnete das Fenster, sagte dabei „damit mas ned riacht“, und genoß die Zigarette, wobei er tief inhalierte. „Des tuat guat“, sagte er dann.

„Wiplinga, hoi mi ob“, sagte er am Telefon, „wia foahrn zum Begräbnis vom Hupperl!“ Er meinte jenes vom Dichter, Schriftsteller und einzigen kommunistischen P.E.N.-Mitglied Hugo Huppert. Kurz gesagt: Es war das skurrilste Begräbnis, an dem ich je teilgenommen hatte. Ich glaube, ich habe das schon beim Huppert-Porträt geschildert, bin mir aber nicht sicher und so führe ich die wichtigsten Punkte noch einmal hier an. Nachdem ich meinen 2CV geparkt hatte, betraten wir den Friedhof. Der Matejka mit seinem Kapperl auf dem Kopf und einer von mir erbettelten Zigarette im Mund. „Du, Herr Stadtrat“, sagte ich, „solltest du auf dem Friedhof nicht dein Kappel abnehmen und die Zigarette wegtun?“ Der Matejka brummte irgend etwas Unverständliches. Und da standen schon aufgereiht die Parteibonzen der Österreichischen KPÖ mit dem Muhri voran mit einem großen Kranz und einer roten Schleife dran mit Sichel und Hammer darauf. „Wia de Zinnsoidotn sans“, sagte der Matejka leise zu mir. Er war ja zusammen mit dem Franz Marek und dem Spira nach der Okkupation der Tschechoslowakei durch die Armeen der Warschauer-Pakt-Staaten unter Protest aus der KPÖ ausgetreten. Aber er kannte sich natürlich gut auf diesem Terrain aus. So etwas wie Verachtung klang da bei der Bemerkung mit oder durch. Und dann traten wir in die Nähe der Aufbahrungshalle. Kerzen brannten, ein Kruzifix hing an der Wand über dem Sarg. Reden wurden gehalten; auch vom damaligen PEN-Präsidenten und Freund György Sebestyén, der sich vornehm und geschmeidig durchlavierte, eine Rede hielt, ohne etwas zu sagen. Und dann läutete plötzlich ein Glöckchen und der Pfarrer kam mit seinen Ministranten herein. Er betete, niemand betete mit. Dann wurde der Leichnam eingesegnet. Der Pfarrer besprengte auch die Umstehenden mit dem Weihwasser. Niemand machte ein Kreuzzeichen. Dann läutete die Friedhofsglocke, die Kränze wurden vom Sarg entfernt, der Sarg auf ein fahrbares Gestellt gehievt und zum Grab geschoben. Der Matejka ging schweigend mit mir, so gegen Ende der Kolonne. Irgendwie betroffen schien er mir schon. Vielleicht dachte er auch an seinen eigenen Tod. Plötzlich aber drehte er seinen Kopf zu mir und sagte: „So a Theater!“ Am Grab sprach dann noch der Diemann, schwulstig und pathetisch unerträglich wie immer, wie ein alter Burgschauspieler. Danach wurde ein Gedicht vom Huppert rezitiert. Dann kam wieder der Pfarrer und anschließend wurde der Sarg in die Grube gelassen. „Geh schon!“ befahl mir der Matejka und meinte, ich solle mich in die Reihe derer stellen, die auf Holzbrettern zum Grabhügel hinaufgingen und ein Schäufchen Erde auf den Sarg hinunterwarfen; etwas, das ich nie mochte und immer vermied. Als wir an der Reihe sind, vor uns noch zwei oder drei Personen, dreht der Matejka sich um und sagt: „Wiplinga, gib ma an Zehner!“ Ich: „Aber wofür denn?“ Er: „Frog jetzt ned so bled, gib ma an Zehner, fian Pompfenebara, des gheat si so.“ Ich gebe also dem Matejka die gewünschte Zehnschillingmünze. Der Matejka nimmt das Schauferl mit der Erde, schmeißt diese in die Grube auf den Sarg, schaut noch kurz hinunter und sagt dann: „Oiso servas, Hupperl!“

Ich liege auf meinem Bett in einem Zimmer des Hotel Europa in Sarajevo, ganz im Zentrum, nicht unweit von der Stelle, wo der serbische Revolutionär Gavrilo Princip den Thronfolger Franz Ferdinand erschossen hatte, was den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat. Ich halte ein Buch in Händen und lese. „Widerstand ist alles!“ – von Viktor Matejka, steht auf dem Buchumschlag vorne. Auf der Rückseite ein Foto und eine knappe Biographie vom Matejka. Eine Parole, nein mehr: eine Lebensdevise, ein Bekenntnis, ein Aufruf ist dieser Titel. Das Buch ist spannend, anspruchsvoll, handelt von einem Thema, das mich schon immer interessiert hat: vom Widerstand; also gegen jedes Mitläufertum, und schon gar nicht auf der Seite der Macht(haber) und eines Regimes stehen! Dieser Lebensgrundsatz ist auch meiner.

Zurück in Wien erfahre ich, daß der Matejka vor wenigen Tagen verstorben ist. Nirgendwo aber erfahre ich, wann und wo das Begräbnis ist. Ich rufe also im Kulturamt der Stadt Wien an; die müssen es wissen. Mit irgend jemandem verbunden frage ich, wann und wo das Begräbnis von Herrn Dr. Matejka stattfinde. Der Mann am anderen Ende der Leitung druckst herum. Wer ich denn sei, fragt er mich. „Ein Freund von ihm“, antworte ich. „Ach so“, höre ich. „Aber dann werden Sie ja vielleicht auch wissen, daß es gar kein Begräbnis vom Herrn Stadtrat Dr. Matejka gibt.“ Da klingelt’s bei mir. Ich erinnere mich, wie der Matejka einmal zu mir, ich glaube, es war beim Begräbnis vom Hugo Huppert, gesagt hat: „Oiso, i loß mi amoi ned begroben. I hob mei Leich testamentarisch dem Anatomischen Institut vermocht, do können dann die Studenten an mir herumschnipseln und no wos lernen dabei. Is doch wuascht, ob mi die Wiama freßn oda ned; so bin i wenigstns a ois Toter no zu wos guat.“

So war er, der Herr Stadtrat Dr. Viktor Matejka, der einmal gesagt hat: „Solang no jemand in an Land unter da Bruckn schloft, red ma ned von Kultur!“ Er war übrigens der einzige Politiker, der jemals nach dem Holocaust Briefe an jüdische Emigranten und Überlebende geschrieben, sie um Entschuldigung gebeten und offiziell eingeladen hat, nach Österreich zurückzukommen. Er konnte das, er durfte das auch, als ehemaliger KZ-ler. Aber der Figl, der spätere Bundeskanzler der Republik Österreich, der ja auch im KZ war, der hat das nicht getan. Also, der Matejka stand immer auf der richtigen Seite: nämlich bei sich selbst!

 

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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Photo: Margit Hahn

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.
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