Egal wo er auch Leute trifft, trifft ihn die Erkenntnis, dass wohl eine Zeit des Umbruchs sei. Traumpaare der letzten Dekaden trennen sich oder proben ein neues Leben in trauter Trennung und unerwarteter Unordnung. Die Bistros und Clubs füllen sich wieder mit Menschen seines Alters. Bei einem gemütlichen Bier, Cocktail oder wahlweise Wein versucht man neue Freundschaften aufzubauen, wenn die alten versagt haben oder abgenutzt scheinen. Man ist den alten Zeitläufen überdrüssig und erkennt seine zweite Jugend. Frauen lernen plötzlich Fremdsprachen, die sie wahrscheinlich ständig gebrauchen werden und nur sehr selten für den hiesigen Kulturkreis fast überflüssig sind. Schließlich reist man in diesem Alter regelmäßig nach Island oder Zentralafrika, dort kann man dann auch die verschiedenen Suaheli-Sprachen endlich in freier Wildbahn testen oder an einem italienischen Restaurant bei einem Geysir auf Isländisch eine Pizza ordern. Ein neues Selbstempfinden zeigt sich allerorten. Männer machen mit Mitte vierzig endlich ihren Motorradführer-, Flug- oder Segelschein. Kaufen sich entsprechende Werkzeuge, sprich Boote, Anteile an einmotorigen Fluggeräten und schwere zweirädrige Kisten gerne amerikanischen Fabrikats. Dann rauschen sie als virtuelle Freiheitskämpfer in schwerer Lederkluft durch die Landschaft und treffen sich an markanten Punkten, gerne an Stauseen, bei einschlägigen Lokalen zum gemeinsamen Pommes- und Currywurstessen.
Andere aber entdecken ihre bisher verborgene wahre Männlichkeit, ihre Urinstinkte werden wach, so generieren sie sich zu staatlich geprüften Jägern und fallen mit neu erwachter Leidenschaft und der frisch erworbenen Lizenz zum Töten in gemeinschaftlich gepachtete Reviere ein. Eine Wildsau ist da das Mindeste, ein kapitaler Hirsch noch besser. Hauptsache endlich mal Herr über Leben und Tod sein.
Ganz spezielle Herrschaften belegen allerdings auch Kochkurse, werfen die alte Küche aus dem Haus und gestalten sich ein Erlebnisparadies mit allen Finessen. Da wird dann pochiert und gebrutzelt, gebacken und püriert, feinste Kreationen verwöhnen den Gaumen der geladenen Freunde. Natürlich haben diese Herren auch einen Sommelierkurs mit Auszeichnung bestanden. Der Abend wird zu einer Entdeckungsreise ins Land der kulinarischen Genüsse.
Die Gesellschaft passt ihre Hobbys und Leidenschaften dem Portmonee an. Ebenso die zu fahrenden Autos und die Kleidung, die Kommunikationsgeräte und schließlich auch die neuen Partner. Alle fühlen sich mit Sicherheit zehn Jahre jünger, Männer wie Frauen. Und wenn alles nicht hilft bricht ein neuer sportiver Ehrgeiz aus, der sich zunächst in kleinen Runden äußert, recht schnell aber zu stundenlangem Joggen ausartet und irgendwann will sich der Neusportler beweisen, sucht den fairen Wettkampf mit den Anderen. Dann melden sie sich zu Marathons und Halbmarathons an. Sie werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nächstes oder übernächstes Jahr auch mal einen Triathlon bestreiten und üben jetzt schon in Kursen das Kraulen, damit man sich im Wasser schneller bewegen kann. Und wer weiß, vielleicht reicht es irgendwann sogar zum Ironman. Andere suchen nun regelmäßig das Fitnessstudio auf und drücken, was Zeug hält. Was sind da schon 60 Kilo? Spätestens alle zwei Tage steht der Kraftsportler nun auf der Matte und wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (siehe oben) später dann ganz entspannt in der angeschlossenen Sauna liegen.
Nur bei den Anderen ist das Alter zu sehen, und wer in den Spiegel guckt, weiß, dass er unwiderstehlich wirkt. Zur Not legt die eine wie andere Seite mehr oder weniger geschickt etwas Farbe auf. Und wenn wirklich jemand wesentlich jünger aussieht, dann weiß jeder sofort, dass da nachgeholfen wurde. Ein Schnitt hier, eine Spritze dort und ja, das Blond ist natürlich Natur.
Aber wenn Herr Nipp abends seine Spaziergänge durch die Stadt macht und feststellen muss, dass letztlich doch die meisten Neujungmenschen, weil dieses jung Leben einfach anstrengend ist, wieder die meisten Abende nur vor der Glotze oder dem Rechner in Dating-Foren hängen, dann weiß er ganz zufrieden, dass er sich genauso alt fühlt wie er ist.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019
Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421