Sieben Gespenster und die Zeit

Es gehen die Uhren ihren Weg ohne Spuren.

Da hocken sie oben in ihren Türmen bei Sonne und Stürmen

Und kauen immer die Stundenbrocken,

Und haben immer bis Mitternacht

Und nicht weiter den Weg gemacht.

Sie haben die Zeit dort oben

Um keine Spanne verschoben,

Sie wollen nur täglich die Stunde erreichen,

Wo über die Wege die Eulen streichen.

 

Seit hundert Jahren geht auf Rädern ein Karren

Auf der Landstraße abends, einförmig mit Knarren.

Den Einsamen triffst Du in allen Ländern,

Nie wird er den knarrenden Gang verändern.

Der Karren ist niemandes Gut noch Habe,

Er fährt am Abend die Zeit zu Grabe.

 

Auch hallt tagtäglich im Wald ein Beil,

Du hörst es, und wirst Du auch Hundert alt,

Beilschlag um Beilschlag kurz aufschallt,

Doch stehen die Wälder stets grad und heil.

Das Beil aber gellt, als ob es Schicksale fällt, –

Tief im Wald hat die Zeit ihr Schafott aufgestellt.

In den Gassen um Mitternacht stöhnt oft ein Hund.

Der öffnet wie’s Grab seinen jammernden Schlund.

Und fallen beim sinkenden Mond Eulen herab in die Straß‘,

Hörst Du ihn heulen, ihn, der die Schmerzen der Zeit in sich fraß.

 

Auch ist in den Mauern um Mitternacht

Ein helles Fenster, das immer wacht,

Das geheime Zeichen ins Dunkel macht.

Und selbst die Zeit muß davor entweichen,

Wo mit langem Docht eine Kerze weht,

Bei Gedanken, die nie zu End gedacht.

 

Und ist ein dunkles Fenster daneben,

Wo die Nacht auch am Tag nie mehr vergeht;

Wo die Scheiben verfinstert als Abgrund leben,

Und wo jede Stunde als Blinde steht.

 

Und Du findest auf jüngstem Haupt, in jedem Jahr,

Ein einzelnes totes, schneeweißes Haar;

Stets geht ein Gedanke voraus der Zeit,

Stets an einem Haar hält Dich die Ewigkeit.

 

Und alle, das helle und dunkle Fenster,

Die Uhren, der Karren, Beil, Hund und Haar,

Sie verfolgen den Menschen als sieben Gespenster

Und leben wie Jahreszeiten im Jahr.

 

 

 

 

Weiterführend →

Die von Farben und Tönen bestimmte ungebundene und rhythmische Lyrik machte Dauthendey zu einem der bedeutendsten Vertreter des Impressionismus in Deutschland. Seine Werke sind bestimmt von der Liebe zur Natur und deren Ästhetik. Mit virtuoser Sprachbegabung setzte er seine Sensibilität für sinnenhafte Eindrücke in impressionistische Wortkunstwerke um. Bereits seine erste Gedichtsammlung von 1893 mit dem Titel „Ultra-Violett“ lässt die Ansätze einer impressionistischen Bildkraft erkennen, die dichterisch gestaltete Wahrnehmung von Farben, Düften, Tönen und Stimmungen offenbart. In seiner späteren Natur- und Liebenslyrik steigerte sich dies bis zur Verherrlichung des Sinnenhaften und Erotischen und traf sich mit seiner Philosophie, die das Leben und die Welt als Fest, als panpsychische „Weltfestlichkeit“ begriff. Rilke bezeichnete ihn als einen „unserer sinnlichsten Dichter, in einem fast östlichen Begriffe“.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.