Radlers Seligkeit

 

Wer niemals fühlte per Pedal,

dem ist die Welt ein Jammertal!

Ich radle, radle, radle.

 

Wie herrlich lang war die Chaussee!

Gleich kommt das achte Feld voll Klee.

Ich radle, radle, radle.

 

Herrgott, wie groß ist die Natur!

Noch siebzehn Kilometer nur.

Ich radle, radle, radle.

 

Einst suchte man im Pilgerkleid

den Weg zur ewigen Seligkeit.

Ich radle, radle, radle.

 

So kann man einfach an den Zehn

den Fortschritt des Jahrhunderts sehn.

Ich radle, radle, radle.

 

Noch Joethe machte das zu Fuß,

und Schiller ritt den Pegasus.

Ick radle!

 

 

 

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Quelle: Brettl-Lieder, hg.v. Otto Julius Bierbaum, Leipzig 1900

Richard Dehmel 1905 auf einer Fotografie von Rudolf Dührkoop

Richard Dehmel galt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker. Seine oft sinnliche und erotische Lyrik zeigt vitalistisches Ungestüm und thematisiert oft Lust und Abschiedsschmerz, hat dabei aber insgesamt verklärende Züge und weist ornamentales Sprachdekor auf.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.