Die lettristische Autonomie der Buchstaben, Zeichen und Laute führte auf dem Gebiet der Literatur zu Klanggedichten, zu einer pictoprose, nämlich einer Verbindung von Schrift und Bild nach Art eines Rebus, zu hypergraphischen Romanen, die verschiedene Schriftsysteme miteinander verschmelzen, und ähnlichen Experimenten. Neben dem Zeichen wird die Stille zum Arbeitsmaterial.
Nach seiner eigenen Darstellung kam Isidore Isou die Idee für den Lettrismus am 19. März 1942, bei der Lektüre eines Buches von Hermann Keyserling. Noch im selben Jahr entwarf er ein „Lettristisches Manifest“, das die „Zerstörung der Wörter zugunsten der Buchstaben“ propagiert. Seine poetologischen Prinzipien übertrug er bald auf die Musik, die Bildende Kunst und den Film. Auf all diesen Gebieten werden musikalische, bildliche oder filmische Elemente jeweils von Zeichen ersetzt oder überlagert. Die Zeichen unterschiedlicher Herkunft verlieren dabei ihren alten Sinn und gewinnen einen neuen.
Lettristen waren dafür bekannt, ihre Kleidung mit Buchstaben und Slogans zu versehen.
1946 gab Isou die Gründung der Lettristischen Bewegung bekannt. Die neue Bewegung mit etwa zwanzig Mitgliedern verkündete 1948 im Quartier Latin auf Plakaten optimistisch: 120.000 Jugendliche werden die Straße erobern, um die Lettristische Revolution zu machen. Ziel war eine Revolutionierung der althergebrachten Ästhetik. Die Sprache sahen die Lettristen als in ihrer Kreativität erschöpft an, künstlerische Produktion sollte sich in Zukunft auf ein reineres und tiefgründigeres Element des Poesiemachens verlegen: den Buchstaben. Diese atomistische Zerlegung der Sprache in ihre kleinste, unteilbare und reinste Einheit sowie die Rekombination dieser Einzelelemente verleiht der poetischen Schöpfung Frische und Vitalität, welche die Lettristen in der Sprache lange Zeit vermissten. Es sollten statt Bildern Zeichen benutzt werden, Isou nannte seine Theorie Hypergraphologie. Damit sollten Figürlichkeit und Abstraktion in der Malerei durch Buchstaben und Zeichen ersetzt werden.
Nach der Auffassung von Isou wechseln sich in allen Künsten eine Stoff ansammelnde und sich erweiternde (amplique) mit einer zersetzenden und selbstzerstörerischen (ciselante) Phase ab. In der Literatur beginne die Zersetzung mit Charles Baudelaire und Stéphane Mallarmé, in der Malerei mit Claude Monet und Paul Cézanne, in der Musik mit Claude Debussy. Der erste Film der „phase ciselante“ ist demnach Isous Traité de bave et d’éternité (etwa: Traktat von Geifer und Ewigkeit; 1951). Er besteht aus teilweise selbstgedrehtem, teilweise aus Abfällen (Found Footage) montiertem Material, in das Zeichen gekratzt worden sind. Die Tonspur, die von den Filmbildern völlig unabhängig ist, bietet einen Text, der auf fiktionale Weise schildert, wie es zu dem Film kam und welche ikonoklastischen Vorstellungen sein Macher mit ihm verbindet.
Alle Wissensgebiete sollen „kladologisch“ (vom griechischen κλάδος, „Zweig“), d. h. nach eigenen Kategorien, geordnet und erneuert werden.
Den Lettristen war auch bereits die Auseinandersetzung mit der Architektur sehr wichtig. Sie stellten die These auf, dass die Befreiung des Lebens auf die Befreiung der Stadt folgt. Dabei war ihnen wichtig, dass die Gesamtheit der Künste nicht abgehoben von der Wirklichkeit existiert, sondern sich auf eine lebenswerte Aktivität stützt. Somit waren die Lettristen mit einem neuen Lebensstil auf der Suche nach einem befreienden Städtebau. Dies war gleichzeitig theoretische Grundlage für die Situationisten. Es kam zu einer Spaltung der Gruppe über die Frage, ob weiter Kunst und Ästhetik das Feld der Arbeit sein sollten oder dadaistische Antikunst und Sabotage das gebotene Mittel seien, um direkt auf die Wirklichkeit Einfluss zu nehmen. Die Sabotage-Fraktion gründete daraufhin die Lettristische Internationale.
Die Zeichen unterschiedlicher Herkunft verlieren dabei ihren alten Sinn und gewinnen einen neuen.
Aus dem Kreis der Lettristen sind auch Guy Debord (der sich jedoch später von ihnen distanziert hat) und andere Protagonisten des Situationismus hervorgegangen. In der lettristischen Bewegung hatte sich eine Gruppierung gebildet, die sich um Guy Debord sammelte. Zum ersten Mal wurde diese Gruppe öffentlich wahrgenommen, als sie am 9. April 1950 bei einer Ostermesse in der Pariser Kathedrale Notre-Dame einen Priester entführte und ihn durch Michel Mourre, einen Vertreter aus den eigenen Reihen ersetzte. Mourre, verkleidet als Dominikaner, hielt vor etwa 10.000 Besuchern der Messe eine „Predigt“, in der er verkündete „Gott ist tot“. In dem dabei entstehenden Tumult musste die Gruppe der anwesenden Lettristen fliehen und konnte nur knapp einem Lynchmord durch die aufgebrachte Menge entgehen. Nachdem die Gruppierung außerdem versucht hatte, eine Pressekonferenz für Charlie Chaplin zu sprengen, distanzierte sich Isou von ihnen, und es kam zur Gründung der Lettristischen Internationale durch die Debord-Anhänger, aus der später die Situationistische Internationale hervorging.
1972 stieß Mike Rose auf die Pariser Gruppe der Lettristen. Die in dieser Zeit entstandenen „Zeichen“-Bilder wurden international bekannt. Eugen Gomringer schrieb über Mike Rose:
Er darf sich heute ganz richtig als ‚Der deutsche Beitrag zum Lettrismus‘ bezeichnen lassen.
Doch bereits in den 60er Jahren war die Sindelfingerin Margarethe Mauritz zusammen mit ihrem späteren Ehemann Roberto Altmann bei den Lettristen. Zwischen 1964 und 1972 schuf sie ca. 150 Werke. Ihre hypergraphiques wurden von Frédéric Acquaviva in seiner Pariser Galerie ausgestellt.
Angeregt durch die Lettristen macht sich A.J. Weigoni 1995 an die Arbeit zu „Letternmusik im Gaumentheater“. Für diesen VerDichter ist das Medium Buch eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache aufzuführen gilt. Die Dreipoligkeit des klassischen Zeichenbegriffs, die Aufspaltung in Bedeutung (Signifikat), Zeichen (Signifikant) und Referent ist das Kompositionsprinzip. Mit hoher Konzentration komponiert der Poeta ludens eine Elegie über die entzweiende Kraft des Eros. Seine Sprache hat Eleganz und Musikalität, und seine Letternmusik ist voller Weisheit und Humanität. Wer sich die Mühe macht, die Gedichte laut zu lesen – was für diese Gattung eigentlich generell zu empfehlen ist – merkt schnell, mit welch unglaublicher Präzision und Raffinesse sie rhythmisiert sind. Das grassierende Etikett Spoken Word ist dafür ein viel zu unpräziser, weil auf den Auftritt schielender Begriff. Das An- und Ineinanderfügen sich ablösender Sinneseindrücke und Denkfragmente zu einem poetischen Komplex, zu einem Kompositorim, das ist eine anspruchsvolle Kunst. Weigoni beherrscht sie. Dies zunehmend im Tonstudio, ähnlich wie Glenn Gould hat er sich an einem bestimmten Punkt seiner Arbeit von der Bühne zurückgezogen, da allein die Studioarbeit dem nahekam, was Weigoni als ästhetische Arbeit gelten läßt. Das Spielen mit Wörtern und das Verschieben der Semantik mit anderen Worten generiet eine Worterotomanie, Linguistik als tanzbares Mantra. Eine Musik aus Buchstaben komprimiert: Polyphonie aus Silben und Wörtern, absolute Musik wie beim späten Monteverdi als Äquivalent für das, was mit Sprache den eigenen Beschädigungen und denen der Welt um diesen kleinen Ich-Mittelpunkt herum entgegengestellt werden kann. Die Rettung hinein ins kulturelle Gedächtnis, auch wenn der Anteil daran auch noch so gering ist.
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Weiterführend → Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.