damals der kleine junge
im mausgrauen mantel
darauf der gelbe judenstern
seine augen weit aufgerissen
vor den gewehrmündungen
vor den schwarzen stiefeln
vor den starren gesichtern
der uniformierten männer
mit den stahlhelmen
jahrzehnte später
das kleine nackte mädchen
in panischer angst schreiend
und weinend auf der flucht
vor den phosphorbomben
der us-marines in vietnam
wiederum später
der nackte kapuzenmann
mit den elektrodrähten
an seinen extremitäten
ein anderer mit der schlinge
um seinen hals wie ein hund
hinausgeschleift auf einen gang
in einem us-gefängnis im irak
eine junge frau grinst obszön
fühlt sich als herrin der welt
als macht über leben und tod
in erinnerung die bilder
von schädeln und gebeinen
ermordeter kambodschaner
jener aus den massengräbern
in srebrenica und anderswo
die glocken läuten zu mittag
in den kirchen beginnt das gebet
in den moscheen gebückte rücken
in den synagogen die feier des sabbat
damals das massaker
im palästinenserlager shatilla
von bomben zerfetzte körper
und blutüberströmte menschen
kinder als geiseln in beslarn
frauen weinend an gräbern
männer von milizen ermordet
ein staatsdiktator spricht zynisch
von der tschetschenischen frage
flackernde fackeln erleuchten
gespenstisch die dunkle nacht
ich gehe durch das ehemalige
jüdische ghetto von warschau
von dem nichts geblieben
jemand stößt mich zur seite
ich entschuldige mich und weiß
ich bleibe die antwort schuldig
ich weiß überhaupt nichts zu sagen
auf keine fragen ich sehe nur bilder
die mich immer wieder verfolgen
im wachen im schlaf wo ich auch bin
Weiterführend →
Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.