Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke.
Johann Wolfgang Goethe
Das moderne Subjekt wird im 18. Jahrhundert krisenhaft geboren, in der Romantiker-WG in Jena. Im kulturellen Kontext spricht man von Romantikern, der Zugehörigkeit zu einer Gegenkultur oder „Underground“-Bewegung, im politischen von Dissidententum. Romantik bedeutete im Sinne von Friedrich Schlegel Abwendung von der Antike und von klassischen Vorbildern: Die mit dem Terminus Romantiker bezeichneten, in ihrem Selbstverständnis „modernen“ Autoren erschließen sich Themen aus ihrer eigenen Kultur und Geschichte und wenden sich von klassischen Formen ab. Das erklärt aus der nachträglichen und historischen Perspektive die Vorliebe für eine fragmentarische Schreibweise in der Romantik. Die Hinwendung zur eigenen Kultur bedeutete zugleich eine stärkere Hinwendung zu phantastischen und traumhaften Inhalten, insbesondere zur Sagen- und Mythenwelt des Mittelalters oder zur barocken Mystik. Die Romantiker betrachteten das antike Menschenbild als unvollständig, als unvollkommene Ausschöpfung des menschlichen Wesens. Das, was zu ergänzen war, umriss Schlegel mit dem Wort „Paradoxie“: Das vom normalen Denken abweichende Empfinden jenseits des rational Verstehbaren und Begreiflichen sollte hervorgehoben werden. Diese Erfassung aller Lebensbereiche war das Ziel der „Universalpoesie“.
Die Romantik kann auf zwei seinerzeit populäre literarische Richtungen zurückgeführt werden. Zunächst einmal sind ihre englischen Wurzeln zu berücksichtigen. Hier ist die Entdeckung der pittoresken Landschaften wichtig, wie sie Joseph Addison in seinem berühmten Spectator-Essay über „Imagination“ hervorgehoben hat. Die Nacht- und Grabesdichtung der Engländer ab 1740 gehört ebenso zu den Voraussetzungen der Romantik wie das Gothic Revival. Im Rahmen dieser Wiederentdeckung der Gotik und des Mittelalters stand zunächst die Gartenkunst im Mittelpunkt, später auch die Literatur. Horace Walpole ist hier eine zentrale Figur. Er begann 1747 mit dem Umbau seines Landsitzes Strawberry Hill an der Themse zu einem neogotischen Schloss-Kloster und schrieb 1764 den ersten Schauerroman The Castle of Otranto. Es handelt sich einerseits um die Schauerliteratur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – in England und Deutschland las man leidenschaftlich gerne die Vorläufer der Gossenhefte.
Zum anderen muss die literarische Strömung des Sturm und Drang berücksichtigt werden, der Ende des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum von vielen Literaten getragen wurde. Während Schauerromane eher der Trivialliteratur zugerechnet werden, befanden sich die Werke der Sturm-und-Drang-Bewegung, vertreten u. a. durch Johann Wolfgang Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther und Friedrich Schillers Drama Die Räuber, auf höherem literarischen Niveau. Die historisch rückwärts gewandte Schauerliteratur regte die Phantasie an, Motive waren oft Gespenster, Ritter, verwunschene und halbzerfallene Burgen. Neben Schlegel und Novalis gehörte auch der Dichter Ludwig Tieck zu den prägenden Persönlichkeiten der deutschen Frühromantik, deren Ursprünge in Jena gesehen werden. Einen entscheidenden Impuls gab Friedrich Schleiermachers Buch: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“, das den Romantikern einen neuen religiösen Impuls vermittelte. Friedrich Schlegel schrieb 1798:
Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist […] der Anfang der modernen Geschichte […].
Der Satz steht am Anfang einer neuen religiös aufgeladenen Ästhetik, wie sie seit der Romantik nicht nur die Literatur prägt, sondern auch die Malerei – so die Kunst der Nazarener – wie auch die Musikästhetik eines Richard Wagner. Madame de Staël öffnete die Tür für die deutsche Romantik auch in Frankreich. Von vielen deutschen und französischen Romantikern wie Clemens Brentano oder François-René de Chateaubriand wurden die ethischen, ästhetischen und emotionalen Aspekte der katholischen Religion verklärt; nicht alle wurden jedoch zu Anhängern eines restaurativen Konservatismus wie etwa Heinrich von Kleist. Victor Hugo setzt sich als Anführer einer demokratischen Partei für Menschenrechte und Menschenwürde ein. In England führten die Nachrichten von der Terrorherrschaft des Wohlfahrtsausschusses dazu, dass sich William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge von der Revolution distanzierten und sich stärker religiösen und patriotischen Zielen verpflichtet fühlten.
Die Grundthemen der Romantik sind Gefühl, Leidenschaft, Individualität und individuelles Erleben sowie Seele, vor allem die gequälte Seele. Romantik entstand als Reaktion auf das Monopol der vernunftgerichteten Philosophie der Aufklärung, der die Natur entgegengesetzt wird, und auf das strenge Regelwerk des durch die Antike inspirierten Klassizismus. Im Vordergrund stehen Empfindungen wie Sehnsucht, Mysterium und Geheimnis. Dem in die Zukunft gerichteten Rationalismus und Optimismus der Aufklärung wird ein Rückgriff auf das Individuelle und Numinose gegenübergestellt. Diese Charakteristika sind bezeichnend für die romantische Kunst und für die entsprechende Lebenseinstellung.
Zur massenhaften Ausbreitung der Romantik kam es, als am Ende des 18. Jahrhunderts, nach einer Ära relativer Ruhe, in der viele Konflikte auf diplomatischem Wege geregelt worden waren, plötzlich die Französische Revolution und Napoleon den europäischen Kontinent mit Kriegen überzogen. Es waren Helden gesucht wie etwa Napoleon in Frankreich oder Admiral Nelson in England, und romantische Wünsche entfachten die Phantasie. Ein weiterer Faktor war die gestiegene Bildung der Bürger, die den Boden für Kunst und Literatur bereitete. Wirtschaftlicher Aufschwung und der damit verbundene höhere Wohlstand ermöglichten es den Bürgern, sich mehr Bücher, Musikinstrumente oder Theater- und Konzertkarten zu kaufen. Auch förderte die neue Maschinenwelt Verstädterung und Landflucht, eine unterstellte vormalige Geborgenheit war für die Romantiker in Auflösung begriffen.
Als Reaktion auf diese Entwicklung und Emanzipation verschloss sich die Aristokratie gegenüber den neuen gesellschaftlichen Tendenzen und Formen. So findet man im 19. Jahrhundert kaum noch Adelige unter den Schriftstellern und Philosophen, einer Domäne der Aristokraten im 18. Jahrhundert.
Die Romantik hat keinen dokumentarischen Anspruch, sie schafft Traumwelten.
Das Unbewusste der menschlichen Psyche wird ausgelebt und kommt zum Vorschein. Dies wird beim Leser, Zuhörer und Betrachter mit verschiedenen Stilmitteln erreicht. Es entstehen Werke, die verschiedene Kunstrichtungen einbinden, zum Beispiel die Vertonung von Gedichten bei Robert Schumann (Liederkreis nach Heinrich Heine für eine Singstimme und Klavier op. 24) oder die Verbindung von Literatur und Musik bei Gustav Mahler und Richard Wagner.
Weder Form noch Inhalt sind festgelegt. So werden Lieder, Erzählungen, Märchen und Gedichte ineinander vermischt und Poesie, wissenschaftliche Spekulation und Philosophie miteinander verbunden.
Friedrich Schlegel prägte als Literaturtheoretiker und -kritiker in der Romantik den Begriff der „progressiven Universalpoesie“ (Athenäumsfragment 116). In der Literatur sollten nun nicht mehr wie in der Klassik bestimmte Schemata für die Erschaffung eines literarischen Werkes vorgegeben sein, sondern man betrachtete den Künstler als freischaffendes Genie. Die Regelpoetik und die Forderungen der drei aristotelischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung verloren an Bedeutung, vielmehr wurde der Roman zum subjektiven Spielfeld des Autors. Ziel war es – nach Schlegel – Philosophie, Prosa, Poesie, Genialität und Kritik miteinander verbindend darzustellen. Aus diesen neuen Konstellationen ergab sich ein fragmentarischer Charakter mit unfertigen Handlungssträngen. Schlegel wollte damit den Werdensprozess der Dichtung betonen und meinte, dass der unvollendete Zustand einer Dichtung der Willkür und Freiheit des Dichters folge.
Der Autor steht über seinem Werk. Er kann herbeigeführte Stimmungen, Bilder oder Geschichten abrupt zerstören und übermenschlich verändern.
Gegenstand der romantischen Sehnsucht ist das Absolute, ein Zustand aufgehobener Entfremdung, den Rousseau zuvor als „Naturzustand“ (état naturel) beschrieben hatte und dem ein unreflektiertes ‚naives‘ Weltverständnis und Weltverhältnis entspricht. Dieser Zustand aber ist dem modernen Menschen unerreichbar geworden und kann auch durch die Kunst, die auf Reflexion beruht, nicht adäquat dargestellt werden. Jeder Versuch ihn darzustellen, greift notwendigerweise zu kurz. Das romantische Kunstwerk, das seine eigene Kritik enthalten soll, kann dieser Einsicht nur gerecht werden, indem es sich selbst ironisch hintertreibt und seine eigene Scheinhaftigkeit zur Schau stellt. D. h. sein zentraler Darstellungsgegenstand ist eine Sehnsucht, deren Ziel unbekannt ist, und jeder Versuch, dieses Ziel anschaulich zu machen, ist zum Scheitern verurteilt. Dieses Paradoxon muss die Kunst aushalten können, wenn sie ihrer Aufgabe gerecht werden möchte.
In der Romantik entstehen erstmals Sammlungen so genannter Volkspoesie. Bekannteste Beispiele sind Grimms Märchen und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn. Doch bereits unmittelbar nach Erscheinen wurde die literarische Bearbeitung (Schönung) durch die Autoren kritisiert, die damit ihre Rolle als Chronisten weit hinter sich ließen. Diese Tatsache rückt die gesammelten Texte näher an die Kunstmärchen und Lyrik ihrer Zeitgenossen als eigentlich beabsichtigt.
Romantik. Alle Romane, wo wahre Liebe vorkommt, sind Märchen – magische Begebenheiten.
Novalis
Als das zentrale Symbol der Romantik gilt die Blaue Blume. Der Dichter Novalis verwendet dieses Symbol der Sehnsucht und des Strebens nach dem Unendlichen sowie der Synergie, d. h. des Verschmelzens der Sinneswahrnehmungen und Erkenntnisebenen, in seinem fragmentarischen Roman Heinrich von Ofterdingen.
Das Motiv der Sehnsucht wird sowohl in der Dichtung, als auch in der Musik – etwa von Frédéric Chopin und Robert Schumann – und in der Malerei – beispielsweise von Caspar David Friedrich – ausgedrückt. Damit im Zusammenhang stehen das Wander- und Reisemotiv sowie die Motive des Fernwehs – zum Beispiel auch bei Charles Dickens und des Müßiggangs, verwendet etwa im Roman Aus dem Leben eines Taugenichts oder in Ahnung und Gegenwart des Schriftstellers Joseph von Eichendorff.
Auch das Motiv der Nacht war in der Romantik beliebt, verkörperte es doch die von den Romantikern propagierte Verschmelzung von Sinneseindrücken besonders gut, siehe z. B. das berühmte Gedicht Mondnacht von Eichendorff oder das Gedicht Ritt im Mondschein von Achim von Arnim, wo sich das Motiv der Nacht außerdem passenderweise mit dem der Liebe verbindet.
In diesen Motivkreis gehören auch die Motive der Verbundenheit mit der Natur (allerdings in idealisierter Form), vgl. das Gedicht Nacht und Winter von Adelbert von Chamisso, in dem das Ich seine Stimmungen in der Natur gespiegelt sieht. Oft wird die Vereinzelung des Menschen angesichts der erhabenen Unendlichkeit der Schöpfung dargestellt wie etwa in Caspar David Friedrichs Bild Der Mönch am Meer (1808/10).
Das Spiegelmotiv gehört gleichzeitig zu einem weiteren typischen Motivkreis der Epoche, nämlich dem des Unheimlichen und Numinosen. Vor allem E.T.A. Hoffmann nahm sich dieses Themenkreises an. Auch die Sammlungen von Volksmärchen und Sagen etwa durch die Brüder Grimm siedeln sich hier an, vgl. Schneewittchen. E.T.A. Hoffmann z. B. verwendete das ebenfalls beliebte Motiv des Doppelgängers (in Elixiere des Teufels, 1815).
Schauplätze in der Romantik sind häufig Friedhöfe, Ruinen (Schauerromantik bzw. Schwarze Romantik) oder alte Burgen, dunkle Wälder, Moore, ein Berginneres oder Höhlen und andere Naturlandschaften. Das Dargestellte ist oft entweder naturmagischen Charakters, übernatürlich, oder märchenhaft. Das Unheimliche ist 1919 im gleichnamigen Aufsatz von Sigmund Freud als durch „Urteilsunsicherheit“ gekennzeichnet ausgewiesen worden. Dieses Schwanken lässt sich – je nachdem – auf die Gestalten in der Dichtung beziehen oder auf das Rezeptionsverhalten des Lesers oder Zuhörers angesichts des Unheimlichen in der Darstellung.
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Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.