Große Liebe

 

Es war die Nacht zum Lillebummer Schützenfest.
Er hielt das Mädchen fest an seine Brust gepreßt.
In seinen Augen standen süße Zähren,
Er war dabei, ihr ‚alles‘ zu erklären.
‚Du bist das schönste Mädchen, das ich je geliebt‘,
Sprach Adolar, ‚weil es keine schönre gibt‘.
Fühlst du, wie unsre Seelen ineinander fließen
Und donnernd sich ins tiefe Meer des Glücks ergießen?‘
Sie sagte nur das eine Wörtchen: ‚Ja!‘
Weil sie das tiefe Meer des Glücks nicht sah,
Weil sie nicht fühlte, wie die Seelen flossen,
Sich brausend ineinander gossen.
Da sprach er: ‚Holdes Kind, fühlst du es nicht,
Wie jetzt mein Herz zu deinem Herzen spricht?
Wie meine Lippen sich auf deine neigen,
Um dir im Kuß das Paradies zu zeigen?‘
Sie sagte nur das eine Wörtchen: ‚Nein‘,
Sie fühlte nicht des Kusses süßen Wein,
Weil Adolar, der sie jetzt küssen müßte,
Vor vielen tausend Worten sie nicht küßte.
Er preßte weiter sie mit Heldenmut
So fest, wie es nur große Liebe tut.

 

 

***

Quelle: An Anna Blume, von Kurt Schwitters, erscheinen 1919.

Anlässlich der Reichtagswahl hat der Raumkünstler, Dichter, und im Brotberuf Werbegraphiker, Kurt Schwitters Anzeigen in Zeitungen geschaltet. Sein Slogan: „Wählt Anna Blume!“ Und er hat in Hannover Plakate mit den Zehn Geboten anbringen lassen – und dann sein Anna-Blume-Gedicht daneben geklebt.

In der Weimarer Republik wird Schwitters‘ Gedicht viel diskutiert, gelobt, veralbert. Und das Werbe-Genie Schwitters wittert seine Chance: Er baut Anna Blume zur Marke auf. Er klebt ihren Namen in seine Collagen und benennt weitere Texte nach ihr.

Unter dem Kennwort Merz hat er ein „Gesamtweltbild“ entwickelt. Daher nimmt es nicht wunder, daß auf seinem Grabstein steht, er sei der Vater von Anna Blume.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.