Wie war es denn nun wirklich und warum das alles nebensächlich ist

 

WEIGONI: Geht es dir nicht langsam auf den Senkel, als die „Clara Schumann-Expertin“ angekündigt zu werden?

EVA WEISSWEILER: Ich habe die Fragen mittlerweile kategorisiert: Nr. 1: „Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?“ Nr. 2: „Hat es etwas mit Ihrem eigenen Leben zu tun?“ Nr. 3: „War Schumann wirklich verrückt?“ Nr. 4: „Wer war nun grösser als Komponist – sie oder er?“ Nr. 5: „Hat Robert Clara beim Komponieren unterdrückt ?“ Nr. 6: „Hatte sie etwas mit Brahms?“ Nr. 7: „Wer ist der Vater von Felix Schumann?“ Nr. 8: „Was ist aus den Kindern geworden?“ Nr. 9: „Ist Clara Schumann Ihr Vorbild?“ Nr. 10: „Wen nehmen Sie sich denn als Nächstes vor?“

WEIGONI Fakten und Fiktion, darf sich das überhaupt mischen?

WEISSWEILER: Phantasie contra Quellen. Persönliche Interpretation contra Tatsachen. Aber – was ist das überhaupt, eine Quelle? Was ist das überhaupt, eine Tatsache? Robert und Clara haben Tagebücher und Haushaltsbücher geschrieben, viele tausend Briefe, Notizen, Kompositionen. Sie sind daguerrotypiert, in Öl gemalt und in Stein gehauen worden, es gibt Briefe über und an sie, Artikel von ihnen und über sie, Nachrufe, Zeitzeugenberichte, Rezensionen. Das sind die Quellen, die primären und sekundären, das Verlässliche und Halbverlässliche, das Material, aus dem der Historiker legitimer Weise zitiert, kritische Gesamtausgabe Bd. I, S. 232, Brief Roberts an Clara vom 7. 3. 1838 Zeile 15ff. nach dem Autograph Nr. 57 des Konvoluts mit Briefen von Robert an Clara, Berlin (West), Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz, Musikabteilung, abgekürzt STPK, MA, Fussnote, kleingedruckt, fertig, frei von Subjektivität, alles so klar, eindeutig und nachweisbar wie eine Mathematik-Aufgabe oder ein Corpus delicti aus der Asservaten-Kammer der Polizei. Alles Lüge, kann man mit dem gleichen Recht sagen, alles vorgeschobene, pseudo-wissenschaftliche Scheinobjektivitat. Schon mit der Auswahl der Quellen fängt es an. Dann kommt der Blick auf sie. Dann die Zitierweise. Dann die Art, sie in die biographische Darstellung einzubinden. Ich will, sagen wir, über die Verlobungszeit Roberts und Claras schreiben. Zitiere ich nun den Brautbrief Claras, in dem sie Robert Treue schwört bis ins Grab oder den, in dem sie ihn vor die Alternative stellt, sich von ihr zu trennen oder „das Eine“ zu unterlassen? Was ist „das Eine“? Seine Besuche bei Christel, genannt Caritas, sein hoher Bierkonsum, oder seine Kontakte zu den „Sonnenjünglingen“? Nehme ich vielleicht noch seine Tagebuchnotiz hinzu, in der er sagt: „Das Eine, ich beschwüre dich, tue es nicht mehr, und ich tue es dennoch“, oder lasse ich die ganze Passage unter den Tisch fallen? Ich kann sie als nebensächliche Episode behandeln oder ins Zentrum neuer Homosexualitäts-Theorien rücken, ich kann Zeitzeugen, seine Leipziger Studienfreunde etwa, zu Wort kommen lassen oder nicht und immer bleibe ich historisch absolut einwandfrei und erlaube mir nicht den geringsten Ausbruch literarischer Phantasie, weder, indem ich schreibe, Clara hatte das von Robert so geliebte blaue Kleid angehabt, als sie das schrieb, noch, Robert hatte ein Glas Champagner dabei getrunken.

WEIGONI: Im Rahmen einer Recherche befragst du doch sicher Zeitzeugen?

WEISSWEILER: Nehme ich ihr Urteil ernst oder verurteile ich sie als hysterisch? Zitiere ich Franz Grillparzer, der Clara als klavierspielendes Engelskind lobt, oder Moritz Gottlieb Saphir, der ihr unterstellt, „von dem Geiste einer Tondichtung gerade so viel zu verstehen wie ein Farbenhändler von dem ästhetischen Werte eines Raphael?“ Hanslick hält sie für eine „leidende Sibylle“, Bettina für eine Ehebrecherin, die ihren Mann brutal in eine Anstalt abschiebt. Wer hat Recht? Vielleicht beide? Aber das geht doch nicht, das widerspricht sich doch, dann wäre sie doch weder schwarz noch weiss, weder gut noch schlecht, dann müsste ich ja wieder psychologisieren und phantasieren, um das Vakuum zwischen den Extrem-Urteilen mit Erklärung zu fällen!

WEIGONI: Und das geschieht wie?

WEISSWEILER: Die Angst vor der sogenannten Phantasie oder Fiktion enttarnt sich damit als Angst vor der Wahrheit. Habe ich erst einmal zur Kenntnis genommen, dass „mein Held“ depressiv, verschwenderisch, jähzornig, bisexuell oder kleinlich war, werde ich mich dazu äussern müssen, vielleicht nicht wertend, aber doch immerhin beschreibend, und die Wortwahl dieser Beschreibung wird mich verraten. Ich muss hinaustreten aus der pseudowissenschaftlichen Anonymität, dem Schutz der Fussnoten und der Quellenzitate, der Unverbindlichkeit werkimmanenter Interpretation und der Aura des Allgemeingültigen, die der Pluralis majestatis mir gibt. „Wir, philologische Biographen von Gottes Gnaden, legen nun unsere geheuchelte Objektivität ab und schreiben wie normale Menschen“, denn dass der Biograph, ob Philologe oder nicht, ein Mensch ist wie derjenige, über den er schreibt, und dass sich damit während des Schreibens eine menschliche Beziehung herstellt, wird niemand bei näherer Überlegung leugnen können. Sie glauben, nicht zu werten, und tun es doch, auf Schritt und Tritt, mit einer Penetranz, die mir persönlich verdächtiger ist als die sogenannte Phantasie.

WEIGONI: Ein Beispiel, bitte!

WEISSWEILER: Wolfgang Hildesheimer, der ebenfalls den Pluralis majestatis benutzt, ein übrigens schwer verständlicher Rückfall nach einem ganzen Leben für die autonome, d.h. fiktive Literatur. Erst beginnt es wie eine Mischung aus Psychoanalyse und Werkinterpretation. Und dann gerät er ins Bevormunden und ins Tadeln: Gib nicht so viel Geld aus, Mozart, geh sparsamer mit deinen geistigen Kräften um, sei aufrichtiger zu deinem Vater und schlaf nicht immer mit den falschen Frauen. Merkst du nicht, dass alle Frauen in deiner Umgebung dumm und oberflächlich sind, deine Mutter, das Nannerl und besonders Constanze? Sie kann noch nicht einmal richtig schreiben, verschwendet dein Geld und betrügt dich, und wenn du erst einmal tot bist, wird ihre grosse Zeit kommen, pass nur auf! Ich gebe offen zu, dass ich bösartig übertreibe, so wie Hildesheimer offen zugibt, dass ihn, oder genauer „uns“, Constanze Mozart „nicht interessiert.“ Sie ist – Zitat – von „bestürzender Banalität“, zu unbedeutend für den Helden. Der Held braucht einen Freund. Den Schreiber. (Wolfgang Hildesheimer). An dieser Grundhaltung ist nichts Schlimmes, finde ich, nur an der Überheblichkeit, mit der sie vertuscht wird. Denn die zwischenmenschliche Beziehung entsteht nicht erst während des Schreibens, sie ist schon da, bevor man überhaupt anfängt und intensiviert oder verändert sich höchstens noch. Fast niemand schreibt eine Biographie ohne zwingenden Grund. Fast immer gibt es eine innere Verbindung zwischen Schreiber und Helden, die oft schon seit der Kindheit des Schreibers da ist, ihn nicht loslässt, ihn vor immer neue Rätsel und Geheimnisse stellt, die er letztlich nur durch das Schreiben auflösen kann. Der Held kann eine positive oder negative Identifikationsfigur für ihn sein, jemand, dem er sich geistig verwandt fühlt, der ihn tröstet, den er bewundert oder der ihn zornig macht, vielleicht interessiert ihn auch weniger der Held als der Mythos und damit die Bewusstseinslage der Gesellschaft, die den Helden verehrt.

WEIGONI: Was war dein „zwingender Grund“ diese Biografie zu schreiben?

WEISSWEILER: Es war die kühne und zerrissene Musik Robert Schumanns, die mich von Kindheit an ebenso angezogen hat wie mich die Legende vom deutschen Musterpaar abstiess. Es war die Geschichte von seinem Tod, die mich schon als Kind deprimiert hat, die bohrende Frage, welchen Anteil hat die Frau, hat Clara, daran, welchen Anteil die sogenannten „Verhältnisse“? Ich spiele auch Klavier und habe auch komponiert, wie Clara. Und ich wollte wissen: wie bleibt man sein Leben lang Pianistin, ohne verrückt zu werden? Denn ich kannte es, dieses Hämmern, das sich von den Fingern in den Kopf übertragt und jeden anderen Gedanken auslöscht. Später, als ich älter wurde, habe ich mich dann gefragt: Warum waren die grossen Komponisten immer Männer? Warum drücken Frauen ihre Phantasien so selten in Musik aus, viel seltener als im Bild oder in der Sprache? Und dann – die Künstlersymbiose. Gibt es das überhaupt? Ohne Neid? Ohne Unterdrückung? Ohne alltägliche, quälende Gereiztheit? Auf fast alle diese Fragen habe ich beim Schreiben Antworten gefunden, meine Antworten, die offenbar nicht jedermanns Sache sind. Das Rätsel, warum Teile einer Gesellschaft so hasserfüllt und fast pathologisch aggressiv reagieren, wenn man, mit sogenannten Tatsachen oder sogenannter Phantasie, ihrem Mythos zu nahe tritt, habe ich nicht lösen können.

WEIGONI: Sich also hineinversetzen in die Figuren?

WEISSWEILER: Jeder Biograph, der sich von den Handschellen der sogenannten Faktizität befreit und sich einem offenen, menschlichen Zugang zu seinem „Helden“ gestattet, wird sie kennenlernen, diese Grenze zur Schizophrenie. Es entwickelt sich nicht nur eine menschliche Beziehung, es entwickelt sich eine Partnerschaft, Ehe, Symbiose, man wacht mit dem Helden auf und man schläft mit ihm ein, versucht, die Orte, an denen er gelebt hat, mit seinen Augen zu sehen, betastet seine Briefe, riecht an ihnen, nimmt vielleicht sogar seine Ausdrucksweise an, träumt von ihm, definiert im Traum die Beziehung neu, leidet oder freut sich mit ihm und stellt ihm Fragen wie ein Analytiker seinem Klienten.

WEIGONI: Gilt das auch für deinen Roman »Der Sohn des Cellisten«?

WEISSWEILER: Auch der Roman- oder Kurzgeschichten-Autor schreibt aus einem realen Zwang, Erlebnishintergrund oder Bedürfnis heraus und nimmt sich oft ebenso „vorgefundene“ Personen zum Thema wie der Biograph, mit dem Unterschied, dass sie nicht allgemein bekannt sind oder keinen für die Allgemeinheit erkennbaren Namen tragen.

WEIGONI: Warum also drücken Frauen ihre Phantasien so selten in Musik aus?

WEISSWEILER: Eine komponierende Frau, damals eine noch viel grössere Rarität als heute, hatte das mühsam erkämpfte gesellschaftliche Ansehen gefährden können, besonders, wenn sie von der männlich dominierten Kritik verspottet und verrissen worden wäre wie die junge Clara Wieck für ihr Klavierkonzert a-Moll.

WEIGONI: Wollte Felix Mendelssohn seiner Schwester diese Erfahrung ersparen?

WEISSWEILER: Wir kennen von Felix Mendelssohn nur, was seine Verwandten und Freunde vor mehr als hundert Jahren ediert haben, immer mit der Schere im Kopf, immer um Idealisierung bemüht, nur ja keine Intimität preisgebend und bestrebt, Lebende und Tote nicht zu verletzen. Seitdem stagniert die Forschung, polemisierte erst Wagner, dann die NS-Musikwissenschaft gegen den Komponisten. Wolfgang Boetticher, Spezialist für musikalische Rasseforschung und noch heute hochangesehener Biograph Robert Schumanns, liess keine Gelegenheit aus, Mendelssohn als eitlen, selbstgefälligen Karrieristen hinzustellen, der von Schumann abgelehnt und verachtet wurde, womit er Schumann zum Vorläufer der Nazi-Ideologie macht. Dabei schreckte er nicht davor zurück, handschriftliche Quellen so zu kürzen oder zu fälschen, bis sich das von ihm gewünschte Bild daraus ergab.

WEIGONI: Auch hier ein Beispiel, bitte!

WEISSWEILER: Schumann schreibt über seine erste Begegnung mit Mendelssohn in Leipzig: „Im August 1835 unser erstes Sehen im Gewandhaussaal. Die Musiker spielten ihm seine Ouvertüre Meeresstille vor. Ich sagte ihm, dass ich alle seine Kompositionen gut kenne; er antwortete etwas sehr Bescheidenes darauf. Der erste Eindruck eines unvergesslichen Menschen.“ In Boettichers Standardwerk über Schumann wird daraus: „Im August erstes Sehen im Gewandhause. Die Voigt, irre ich nicht, machte uns zuerst bekannt.“ Über Mendelssohns Plan, in Leipzig ein Konservatorium zu gründen, schreibt Schumann: „Seine Gedanken über das Konservatorium, dass er namentlich den Musikern auch einen Verdienst zuweisen wollte und sein Benehmen dabei, dass er nie als Direktor angesehen werden wollte.“ Boetticher kürzt und manipuliert: „Gründung des Konservatoriums und sein Benehmen dabei, dass er nur als Direktor angesehen werden wollte.“ Soviel zum Begriff der „Quelle“, die angeblich hundertprozentige Wahrheit und Authentizität verbürgt. Doch die beste Quelle taugt leider nichts, wenn ihr Bearbeiter nicht redlich mit ihr umgeht, sondern sie als Beweismittel eigener Vorurteile missbraucht. Dieses Vergehens gegen die biographische Integrität macht sich allerdings nicht nur Boetticher, sondern auch sein Entlarver und Kontrahent, der aus Deutschland stammende, nach Amerika emigrierte Musikwissenschaftler Eric Werner schuldig, der für den Atlantis-Verlag eine scheinbar vorbildliche Mendelssohn-Biographie schrieb, die erste, die handschriftliche Quellen benutzte. Er deckte Boettichers Fälschungen auf und fälschte seinerseits Felix Briefwechsel mit Fanny, die ihm in ihrer weiblichen Stärke suspekt war und die er unbedingt als hysterische, auf den Bruder inzestuös fixierte Neurotikerin abqualifizieren wollte, bei gleichzeitiger Missachtung ihrer Bedeutung als Künstlerin. Auch ich wäre auf seine Interpretation hereingefallen, hätte ich nicht die Korrespondenz im Original gelesen und dabei erhebliche Abweichungen von Werners Lesarten festgestellt.

 

 

***

Weiterführend →

Um den Bücherberg nicht zu vergrössern war dieses Buch als Printing on demand erhältlich. Die digitalisierten Daten konnten  abgerufen und in kleineren Stückzahlen gedruckt werden.
Dieser Band war als bibliophile Vorzugsausgabe erhältlich über den Ventil-Verlag, Mainz.

Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche  ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt.

Einen Essay zu dieser Reihe finden Sie hier.

Post navigation