Eine Wahlverwandtschaft

Nichts ist wertvoller als Vertreter dieser seltenen Gattung, in denen man die Repräsentanten eines zukünftigen Zeitalters sehen darf.

(aus: Paul Valéry über Rilke, Paris 1927)

Der Kontakt zwischen den beiden ging zunächst von Rilke als hervorragendem Kenner der französischen Sprache, Literatur und Kunst aus. Rilke übertrug ab 1921 eine Reihe von Valérys Schriften ins Deutsche. Valéry, der selbst des Deutschen nicht mächtig war, fand den Zugang zu Rilke über ihm nahestehende Freunde – wie den Schriftsteller André Gide und die Dichterin Cathérine Pozzi – vor allem aber über die persönliche Begegnungen mit Rilke und dessen Gedichte in französischer Sprache. So kam es zu dieser nicht nur für das deutsch- französische, sondern auch für das europäische Kulturleben bis heute an- und aufregende Beziehung.

Dies stille Dach, auf dem sich Tauben finden,
scheint Grab und Pinie schwingend zu verbinden.
Gerechter Mittag überflammt es nun.
Das Meer, das Meer, ein immer neues Schenken!
O, die Belohnung, nach dem langen Denken
ein langes Hinschaun auf der Götter Ruhn!

Dies ist der Beginn eines der berühmtesten Gedichte von Paul Valéry, übersetzt von Rainer Maria Rilke, und hier ist alles enthalten, was diesen repräsentativen Schriftsteller ausmacht: die Verbindung von Gefühl und Verstand, von Traum und Wissenschaft. Darum hat dieser Dichter zeit seines Lebens gerungen, aber es gehört zu den großen Geheimnissen seines 74-jährigen Lebens, dass er nur in zwei kurzen Phasen überhaupt Gedichte geschrieben hat: einmal als knapp Zwanzigjähriger, das andere Mal während und nach dem Ersten Weltkrieg, in einem rauschhaften Schub nach einer fast zwanzigjährigen Pause. Geheimnisse gibt es viele im Leben von Paul Valéry – es sind vor allem innere Geheimnisse, denen man kaum auf die Spur kommt.

Paul Valéry war auf der Suche nach dem reinen Geist. Zu Lebzeiten galt er als größter französischer Lyriker seiner Zeit. Durch seine „kristalline Dichtung“ suchte er einen von Gefühlen ungestörten „reinen Geist“. Sein eigentliches Hauptwerk sind aber die postum veröffentlichten Cahiers. Fast täglich und über ein halbes Jahrhundert lang begann er jeden Morgen damit, dass er sich in seine Denkhefte Notizen, Beobachtungen und Einfälle notierte. Sie sind ein einzigartiges Denklaboratorium des modernen Menschen und nicht nur ein Paradebeispiel lebensphilosophischer Selbsttherapie, sondern eine Antwort auf die große Frage: »Was kann ein Mensch?«

 

 

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Gedichte von Paul Valéry, übertragen durch Rainer Maria Rilke. Weimar: Cranach Presse für Leipzig: Insel-Verlag, 1925.

Weiterführend Lesen Sie auch den Essay von Rainer Maria Rilke auf KUNO über Moderne Lyrik.

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→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.

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