Flügelfrei

 

Hey Villon!, könnte ich ihn wie einen Kumpel rufen und fragen, ob wir,

Schulter an Schulter, nicht mal ein Glas über den Durst trinken.

 

Und ob! Ich war schon vorher verloren, wackelte wie ein frisch geborenes Buckelrind …

Wäre ich so mächtig wie der Drache im Märchen gewesen, hätte ich alle Sterne als

Geisel genommen, so böse war ich auf die Welt!

 

Selbst die Balladen, die ich dazu schrieb, halfen nicht weiter. Falsche Wörter

und Namen waren nun Vogelscheuchen im Feld oder auf Zaunspitzen gespießt .

 

Aber alles verging, wer jetzt schreibt, ist von Kopf bis Fuß vernarbt und verdreht,

nur will ich diesmal flügelfrei sein, Vagabundin wie er, der Dichter François.

Doch mich nicht an den Gittern festhalten oder am Galgen baumeln mit seiner Zunft,

 

will mittrinken und von überall sprühende Funken mitklauen, um daraus mein eigenes Licht über den Heimweg zu streuen, und die aufgeblasenen Wahn- und Lügenballons

mit einem einzigen Messerstich zu durchlöchern.

 

Und ihm am Ende verraten, wo der Schnee der vergangenen Jahre hinging

 

 

 

***

Bei Francisca Ricinski sind die Grenzen zwischen Poesie und Prosa fließend. Ihre poèmes en prose weisen Merkmale eines Gedichts wie starke Verdichtung und Rhythmisierung der Sprache sowie lyrische Subjektivität auf, eine Selbstanleitung zur Introspektion. Diese Texte über Wurzellosigkeit sind eine Melange aus Erinnerung, Beschreibung und poetologischer Reflexion, in der sich das eine vom anderen nicht trennen läßt. Mit stilistischem Gespür mischt sie Genres, gleitet vom Heute ins Gestern und wieder zurück, es sind gleichsam Radierspuren, die das Vergessen freilegen.

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Wir verleihen Francisca Ricinski in 2016 den KUNO-Prosa-Preis. Lesen Sie hier die Begründung.