Holger Benkel verfügt über kulturelle Deutungsmuster und Übersetzungsmöglichkeiten, die anderen fehlen. Seine Biographie erscheint als Zwischenexistenz, als interkulturelle Existenz, aber sie dient ihm der produktiven Herausforderung und nicht irgendeiner Verostung. Für jemanden, der auf dem Land zu Hause ist und der die Welt der Arbeit ganz genau kennt, der Schreibkrisen hinter sich hat und erst spät entdeckt wurde, scheint das Bild des Außenseiters wie geschaffen. Bei Benkel sind Selbstwahrnehmung und öffentliches Rollenklischee schon früh miteinander verschmolzen. Der anhaltinischen Provinz, in der er geboren wurde, hält er bis heute die Treue. Auch die meisten Bewohner seines „Heimatdorfes“ haben sich inzwischen arrangiert mit dem schreibenden Nachbarn. Mit seinen Gedichten hat er dort Fährten eingezeichnet, die nicht so schnell verblassen dürften. Von westlichem Verschwörungsdenken ebenso weit entfernt wie von östlicher Zerknirschtheit, betreibt er eine Archäologie der Lebens– und Seinsformen in der ehemaligen DDR und im Nachwendedeutschland. Die literarische Gestaltung gesellschaftlicher Zustände und Prozesse kann indes beinahe nur gelingen, wenn man sie sich nicht dauernd vornimmt, sondern vielmehr aus der eigenen Erfahrung heraus schreibt.
Motivfelder
Geschichte ist für Holger Benkel niemals endgültig erforscht. Jede Generation schreibt sie neu, sucht neue Perspektiven der Annäherung. Eine Gesellschaft versteht nur jene Erinnerungen, die sie in einem gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann. Für ihn sind Symbole keine feststehenden Bedeutungszeichen, sondern Substanzen, die sich in einem permanenten Prozeß befinden, der sie wandelt und worin sie selber immer wieder Facetten bilden. Die Idee des Sonderlings liegt auch in Benkels Stil und seiner Art des Weltzugangs begründet. Man muß sich erst gewöhnen an diese Sprache, an diesen Ton, der von weit her kommt. Bei Holger Benkel kann man sich ansehen, was Dichtung in einem emphatischen Sinne einmal gewesen ist – für einen Lenz, für einen Hölderlin, für einen Trakl. Es schleichen sich auch dunkle Töne in die Gedichte ein. Benkels lyrisches Ich weiß um die Schattenseiten der Natur und benennt die Verwerfungen der Geschichte und versucht Motivfelder, die ihm zufallen, zu gestalten. Seine Kunsttheorie nimmt die Antike als Basis, um in der Folge den Verfall zu diagnostizieren.
Sprachbilder
Erst im Sprechen entsteht überhaupt so etwas wie Welt. Und damit die Sprache nicht gleich wieder fest wird und neue Zuschreibungen bildet, versucht der Schreibende niemals stehenzubleiben, wünscht sich fortwährende Verwandlung. Der Lyriker sieht den Logos als Urgrund der Welt, aber nun nicht unpersönlich wie in der antiken Philosophie, sondern Person, eine Vernunft, die zugleich Liebe ist – schöner und klarer läßt sich das Wesen des Poesie, seine Anknüpfung an vorher Gedachtes und der entscheidende Schritt darüber hinaus kaum fassen. Die Sprachbilder, die Holger Benkel ersinnt, bewahren bei aller artifiziellen Konstruktion eine überzeugende Natürlichkeit. Diese ist selbst dann zu finden, wenn er ganz zwanglos Verknüpfungspunkte der damaligen Mentalität mit der heutigen sucht. Ein solcher Rückgriff auf Bildungsgut ist mitnichten Selbstzweck, stilistischer Schmuck, auch wenn er manchmal für die Überraschung der eher oberflächlichen Koinzidenz dient. Die Zentralfigur der europäischen Lyrik ist das entfremdete Individuum, das gerade aufgrund seiner Entfremdung immer weniger einem Kanon der Überlieferung folgen kann oder will. Holger Benkel sieht die Gefahr, daß geistig ideelle Prozesse den technologischen nicht mehr nachfolgen und dadurch letztere unkalkulierbare Wirkungen produzieren. Eine Alternative ist für ihn immer wieder die Rückbesinnung, die auch Gegenwärtiges in einem anderen Licht erscheinen läßt. Er dringt in die Gedärme der Sprache ein und läßt die Geistesgeschichte des deutschen Idealismus leuchten wie einen Leib in Verwesung. Seine utopischen und apokalyptischen Gedanken – und beides scheint ja zusammenzugehören – sind aus antiken und jüdischen Quellen gespeist. Expressionistische Dichter, die ihn früh anregten, haben im 20. Jahrhundert die bildungsbürgerliche Denkwelt und Ästhetik demontiert und zertrümmert. Im 21. Jahrhundert wird sich das kaum wiederholen lassen, weil der Bildungsbürger ausgestorben ist. Hier helfen keine Bilder über die Worte hinweg, die man nicht versteht. Hier gibt es nur Worte. Viele sind so obskur, daß nicht mal Muttersprachler genau wissen, was sie bedeuten. Seine literarischen Figuren bewegen sich durch Zwischenreiche. Die Beleuchtung wechselt von gleißender Helle zu tiefer Dunkelheit, die Temperatur von heißen Wirbeln zu eisig starrer Kälte. Das Tempo des Wechsels ist schnell. Seine Gedichte halten den Moment des Vorgangs fest, in dem der Wandel geschieht. Benkel sieht im Archaischen Modernismen und im modernistischen Schreibansatz Urformen des Dichtens wirksam werden. Seine Texte lesen heißt an der richtigen Stelle Komplexität reduzieren. Keine Bildungshuberei, wenn sie gegen einen arbeitet.
Analytische Deskription
Walter Benjamins Ideal einer „analytischen Deskription“ erfüllte sich in Benkels besten Texten. Seine Aphorismen gehen weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Holger Benkel macht den Versuch, diesen kleinen Rest an Sprache und Gesicht ein wenig aufzuhellen, und die Anstrengung, wenigstens meine Ränder verstehbar zu machen. Das Schöne an seinen Aphorismen ist, daß er das Spiel mit den Wörtern nicht als bloße Etüde betreibt, vielmehr schimmert hinter all den Spracherkundungen ein existentiellerer Kern. Da entdeckt das flimmernde Ich unversehens Teile von sich in fremden Menschen auf der Straße oder vermutet, die eigene Zunge könnte nur geliehen sein. Es gibt den Gedanken von Walter Benjamin, daß zu jeder Kultur, wie der Schatten der Aufklärung, ihr eigenes barbarisches Potential gehört. Wenn man mit Holger Benkel weiterdenkt, muß das nicht nur abwertend gemeint sein. Die Menschen in Westeuropa sehnen insgeheim bisweilen eine „barbarische“ Erschütterung herbei, um damit Versteinerungen der eigenen Kultur oder Lebensart aufzubrechen. Bei der Dialektik von Kultur, Zivilisation und Barbarei kommen einem 60 Jahre nach Kriegsende in der Tat noch andere Zusammenhänge von Denkern und Henkern in den Sinn. In seinen Gedichten, organisiert in freien, typographisch aufgefächerten Versen, bewegt sich ein nomadisierendes Ich durch graue, zerfallende Industrielandschaften und zeichnete das Bild einer Gegend im Fäulnisstadium. Diese impressionistischen Streifzüge eines renitenten Flaneurs bewahren ihre schöne Rauheit.
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kindheit und kadaver. Mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995
Weiterführend →
In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.
Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013
Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.
Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015