Ein Schreibtischtäter – im positiven Sinn!

 

WEIGONI: Muss man als Herausgeber von Lyrik-Anthologien ein Masochist sein?
AXEL KUTSCH: Im Prinzip nicht. Aber es bleibt kaum aus, dass man im Laufe einer langjährigen Herausgebertätigkeit zum Masochisten wird. Es spricht sich schnell in Deutschland herum, wenn irgendwo seriöse Anthologien ediert werden, also Sammelbände, bei denen die Autorinnen und Autoren sich nicht finanziell zu beteiligen brauchen und ebensowenig zu Mindestabnahmen genötigt werden. Und dann hagelt es schon bald Gedichte. Manche Einsender schicken wenige Texte, andere 40 bis 50, obwohl in einer Anthologie bestenfalls ein paar Beiträge pro Autor veröffentlicht werden können. Es ist dann auch haufenweise lyrischer Schrott darunter, für dessen Lektüre man eigentlich Schmerzensgeld erhalten müsste. Aber als engagierter Herausgeber liest man alles bis zur letzten Zeile, ärgert sich, dass so viele Dilettanten sich offenbar für Dichter halten und legt den Kram ad acta: Nicht verwendungsfähig. Ja, so wird man allmählich zum Lyrikmasochisten, in den Augen der Dilettanten wohl eher zum Sadisten, weil man von ihnen nicht mal einen Dreizeiler veröffentlicht. Allerdings bleiben immer genug annehmbare bis hervorragende neue Gedichte auch weniger bekannter Verfasser übrig, mit denen man Jahr für Jahr lesenswerte und niveauvolle Anthologien füllen kann. Da kommt Entdeckerfreude auf, die für den vielen Schrott entschädigt.
WEIGONI: Es schreiben also zu viele Menschen Gedichte?
KUTSCH: Dagegen ist ja eigentlich nichts zu sagen. Das Problem ist, dass zu viele publiziert werden wollen, deren Texte einfach noch nicht reif für eine Veröffentlichung sind.
WEIGONI: Wahrscheinlich auch niemals sein werden?
KUTSCH: Auch das. Etwas Talent sollte schon vorhanden sein. Man merkt so mancher Einsendung an, dass ihre Verfasser sich zu wenig mit Lyrik beschäftigen. Da wird blauäugig drauflosgeschrieben, als hätte es nie Autoren wie Benn, Rühmkorf oder Enzensberger, um nur ein paar deutsche Namen zu nennen, gegeben. Auf der anderen Seite gibt es die akademischen Dilettanten, die zwar belesen sind, aber nur schwachen Abklatsch bekannter Vorbilder zu Papier bringen. Nicht jeder Lyrikleser muss doch gleich ein Poet sein.
WEIGONI: Ich hatte das Vergnügen, ähnliche Darbietungen sogar bei einer Lesung zu erleben. Im D-Dorfer Poetry-Café kann man die Texte auch hören! Das ist teilweise ein Stukafliegen, das nahe an einen Hörsturz herankommt. Es ist nicht nur unglaublich, was diese Verfasser alles verschicken, fast noch unglaublicher ist, wer sich mit seinen Niederschriften auf eine Bühne traut und dazu noch in erbärmlicher Weise mit Betonungen, die zuweilen genauso falsch und schief wie die Metaphern sind, vorträgt! In den USA sind sie da einen Schritt weiter, wessen Texte nichts taugen, wird vom Publikum sofort von der Bühne gebuht.
KUTSCH: Das sollte auch in Düsseldorf Schule machen – und nicht nur dort.
WEIGONI: Ein Publikum kannst du dir meiner Erfahrung nach nur erobern, wenn du für deine Feinde spielst. Bei denen musst du dich zuerst durchsetzen! Schulterklopfen von guten Freunden reicht nicht aus, um seine Texte am Markt durchzusetzen. Das heutige Publikum will intelligent unterhalten und nicht von betrunkenen Genies unflätig beschimpft werden. Wer sich betrinken muss, um vor ein Publikum zu treten, sollte sich ernsthaft fragen, was er wirklich für Probleme hat. Früher war es mit den sogenannten „Innerlichkeitstexten“ so, derzeit nennt es sich „Social-Beat“, was sagst du zu dieser, ich nenne sie mal so: „Bewegung“?
KUTSCH: Der Social-Beat hat tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten mit der Neuen Innerlichkeit der siebziger Jahre: viel psychischer Alltagsmüll und Beziehungsabfall werden hier wie dort recycelt, die Frustrationen über gesellschaftliche Missstände und die eigene Ohnmacht mit Biersaufen bekämpft – letzteres vor allem in den Texten der neuen Bewegung. Aber die Innerlichkeitswelle hat wenigstens noch echte Talente hervorgebracht, zum Beispiel Born und Theobaldy. Bei den Social-Beat-Leuten sind ein paar Vierteltalente zu entdecken, der grosse Rest dümpelt in einem faden Gebräu aus halbgarem Gelaber und literarischer Anspruchslosigkeit dahin. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die meisten von ihnen am liebsten neue Bukowskis wären. Old Buk würde im Grabe Samba tanzen, wenn die Elaborate seiner teutonischen Epigonen ihn dort erreichen könnten – sicher nicht vor lauter Vergnügen.
WEIGONI: Weil die „Social Beat“-Szene nicht in der Lage ist, ein eigenes Lebensgefühl zu entwickeln, kopieren sie eins aus der Vergangenheit und so sieht das auch aus, was sie zu Papier bringen, es ist: die Kopie einer Kopie. Wie alle Epigonen zerstören sie das, was sie begehren. Es ist aufgesetzter Pseudo-Underground.
KUTSCH: Gibt es überhaupt noch einen Underground oder ist der mit Biby Wintjes als letztem Mohikaner gestorben?
WEIGONI: Mit Wintjes ist der letzte Aufrechte des Undergrounds gestorben. Die progressive Paralyse setzte allerdings schon Anfang der 80-er Jahre ein, auf einmal war alles Simulation. Ich entwickelte für den Krash-Verlag eine Reihe mit dem Titel Gossenhefte und wir erfanden eine neue Literaturrichtung. Der Begriff Independent-Literatur wurde von Dietmar Pokoyski, Niklas Stiller und mir als Statement des fiktiven Pressesprechers Mathias Hagedorn als Fake lanciert, einige Zeit später gab es diverse Zeitschriften und Macher, die sich dieser Bewegung zugehörig fühlten.
KUTSCH: Ich verfolge seit Jahren mit grossem Interesse die zahlreichen literarischen Aktivitäten abseits der Suhrkamp- und Hanser-Gleise; sei es nun Independent oder sogenannter Underground. Da dampft zwar viel Unvermögen, aber es sind auch gute Ansätze bei diesen und jenen Schreibern zu erkennen. Mich stört, dass es hier zu viele Grüppchen gibt, die sich offenbar am liebsten nur selbst produzieren wollen. Es werden immerzu neue kleine Magazine gegründet, die vor lauter Schwindsucht kaum die dritte Nummer überstehen. Hier wäre eine stärkere Vernetzung notwendig, um wirklich in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit vorzudringen. Was bringt es einem Autor, wenn er nur für ein paar Bekannte und Insider schreibt?
WEIGONI: Wäre einfacher, in einer Talk-Show 5 Minuten ein Star zu sein…
KUTSCH: Für manche Profilneurotiker würde das ausreichen! Vernetzung bedeutet übrigens nicht, dass dem Pluralismus dadurch generell das Wasser abgegraben werden soll. Das oftmals kleinkarierte Sektierertum in der literarischen Macher-Szene ist wenig hilfreich. Da gibt’s eine weitverzweigte Dürre und nur vereinzelt Oasen.
WEIGONI: Du hast unter anderem eine Lyrik-Anthologie herausgegeben, die sich in unterschiedlicher Form mit dem Zeitenwechsel beschäftigt…
KUTSCH: Der Titel lautet: »Jahrhundertwende«. Einige in meiner Umgebung haben mir geraten, die Anthologie »Jahrtausendwende« zu nennen. Das wäre mir zu bombastisch und zu vermessen. Mit einigem Glück wird die Menschheit die kommenden Jahrzehnte noch überstehen, aber kaum das nächste Jahrtausend. Wir haben es inzwischen soweit gebracht, dass das Denken in grossen Dimensionen an Scharlatanerie grenzt. In diesem 20. Jahrhundert ist gnadenlos viel kaputtgemacht worden. Und so wird es weitergehen. Keine Aussicht auf Besserung. Ich blieb also bei »Jahrhundertwende«. Diese Thematik umfasst mancherlei Aspekte: Blick zurück in vergangene Epochen, auf die Gegenwart und in die nähere Zukunft. Das Buch ist ein inhaltlicher und stilistischer Fin-de-siècle-Seismograph zeitgenössischer deutschsprachiger Lyrik.
WEIGONI: So komplex und so umfangreich wie deine anderen Anthologien?
KUTSCH: Diese Bände sind allesamt Dokumentationen der vielfältigen Ausdrucksformen unserer modernen Poesie der 80-er und 90-er Jahre – von etablierten Dichtern wie Enzensberger und Rühmkorf bis zu jungen, nachdrängenden Autoren, die sich teilweise schon durchgesetzt haben, Durs Grünbein und Uwe Kolbe zum Beispiel. Und auch der eine oder andere Social-Beat-Schreiber ist dabei. Diese „Bewegung“ ist bei allen Vorbehalten immerhin eine diskussionswürdige Randerscheinung in der neuen deutschsprachigen Literatur. Grund genug für mich, sie als deren Bestandteil zu registrieren.
WEIGONI: Herzliches Beileid zu einer weiteren Manuskriptschwemme, aber Moment, – … der Herausgeber als Registrator?
KUTSCH: Das hört sich nach Bürokratie an, ist mir zu pauschal gefragt. Ich habe vorhin gesagt, dass zahlreiche Einsender, die mir Texte schicken, angesichts mangelnder Substanz durch die Maschen fallen, wobei ich Irrtümer nicht ausschliessen kann. Schliesslich bin ich nicht der unfehlbare Gott der Herausgeber. Ich lege Wert darauf, die verschiedenen Strömungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu erfassen, auch originelle Einzelgänger, die sich nicht einordnen lassen. Meine Anthologien sind nicht eindimensional ausgerichtet, sondern pluralistisch – eine Vernetzung zeitgenössischer lyrischer Schreibweisen, wenn man so will, kein bürokratisches Registrieren.
WEIGONI: Wie verträgt sich der Lyriker Axel Kutsch mit dem Herausgeber?
KUTSCH: Schlecht. Während der Wochen und Monate, in denen ich mit der Zusammenstellung einer Anthologie beschäftigt bin, fällt mir selbst meistens kein akzeptabler Vers ein. Tag für Tag Dutzende Gedichte sichten, etliche davon gleich beiseite legen, weil sie nichts taugen, andere, mit denen man nicht auf Anhieb klarkommt, mehrmals lesen und sich irgendwann entscheiden – da bleibt eine Zeitlang fast kein Spielraum mehr für eigene literarische Kreativität. Aber niemand zwingt mich zu dieser editorischen Arbeit, die ja auch ihren schöpferischen Stellenwert hat. Ich mache das höchst freiwillig und ausgesprochen gerne. Daran ändern selbst die Frustrationen nichts, die mir viele schlechte Einsendungen mitunter bereiten.
WEIGONI: Mit dem Sammelband »Der Mond ist aufgegangen« hast du die Gegenwartsebene verlassen und dich bis ins Barock zurückbegeben. Hattest du da vorübergehend die Nase von der zeitgenössischen Lyrik voll?
KUTSCH: Keineswegs, ein gutes Drittel der Texte stammt von heute lebenden Verfassern. Es hat mich gereizt, anhand eines eng umgrenzten Themas eine Geschichte der deutschsprachigen Poesie von 1600 bis in unsere Tage vorzulegen. Wer den Band aufmerksam liest, wird darin alle Stilrichtungen, die in dem genannten Zeitraum prägend waren, bzw. heute verwendet werden, wiederfinden – in Form von Mondgedichten. Ich habe es in meinem kurzen Vorwort bewusst unterlassen, darauf hinzuweisen. Die Folge ist, dass keiner der Kritiker, die die Anthologie rezensiert haben, auf diesen literaturhistorischen Hintergrund eingegangen ist. Wahrscheinlich habe ich einfach zuviel vorausgesetzt. Kritiker sind auch nur Menschen und haben am liebsten ausführliche Informationen, die ich ihnen im »Mond«-Vorwort vorenthalten habe. Dann brauchen sie sich nämlich nicht mehr so intensiv mit dem Gegenstand ihres Rezensierens zu befassen.
WEIGONI:  In deinen eigenen Lyrikbänden ist eine Entwicklung vom engagierten und gesellschaftskritischen Gedicht zu eher spielerischem Umgang mit Inhalt, Form und Sprache zu beobachten…
KUTSCH: Ich schreibe seit rund 30 Jahren Gedichte, seit 1975 sind einige hundert davon veröffentlicht worden, in vielen kleineren Verlagen, aber auch in renommierten Häusern wie Luchterhand und S. Fischer. Also man kann doch nicht erwarten, dass ein Autor jahrzehntelang stereotyp auf einer Schiene bleibt.
WEIGONI: Die meisten Schriftsteller tun das und geben das als Stil aus.
KUTSCH: Mancher von ihnen wiederholt sich dann im Laufe der Zeit immer wieder, ohne neue Akzente zu setzen. Ich finde es spannend, Entwicklungen im Werk eines Autors zu verfolgen, auch Brüche und Widersprüchliches zu entdecken. Bei mir hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit Literatur im allgemeinen und Lyrik im besonderen sehr wenig bewegt werden kann. Wenn meine Poesie heute auch mehr spielerische Aspekte als in den 70-er und 80-er Jahren aufweist, so bedeutet das allerdings nicht, dass die politische, bzw. gesellschaftskritische Komponente vollends verschwunden ist. Sie wird nur nicht mehr so plakativ in den Vordergrund gerückt wie in vielen frühen Werken. Meine Lyrik ist inzwischen humorvoller und ironischer geworden. Wie sie übermorgen aussehen wird, kann ich natürlich heute noch nicht sagen. Aber ich glaube nicht, dass ich je mit ihr im esoterischen Elfenbeinturm landen werde.
WEIGONI: Unter anderem ist ein bibliophil gemachter Band von dir erschienen, der von Ferne an ein Motto von Grabbe erinnert…
KUTSCH: Die Gedichte stehen unter dem Motto „Scherz, Satire, Ironie“, wobei tiefere Bedeutung nicht ausgeschlossen ist. Der Titel lautet »Einsturzgefahr«.
WEIGONI: Der Titel hört sich, wenn man den gelassenen Subtext deiner Gedichte liest, dramatisch an. Einsturzgefahr auch im gesellschaftlich-politischen Sinn?
KUTSCH: Es sind Texte dabei, die in diese Richtung zielen, aber auch solche, in denen ich mit der Materie Literatur jongliere. „Spiel-Zeug“ sozusagen.

 

 

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Weiterführend →

Um den Bücherberg nicht zu vergrössern war dieses Buch als Printing on demand erhältlich. Die digitalisierten Daten konnten  abgerufen und in kleineren Stückzahlen gedruckt werden.
Dieser Band war als bibliophile Vorzugsausgabe erhältlich über den Ventil-Verlag, Mainz.

Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche  ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt.

Einen Essay zu dieser Reihe finden Sie hier.

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