Poesie der Leerzeile

 

Die Lücke zwischen Worten, wenn sie mehr will als die bessere Lesbarkeit der Worte, ist partielle Leerzeile und gewinnt – je nach Kontext – Polyvalenz (mit und ohne Pünktchen oder andere Verdeutlichungen der Auslassung).
Da, wo eine Leerzeile mehrfach in gleicher Weise strukturiert (Absatz, Strophe…), ‚reimt‘ sie sich gleichsam auf die vorhergehende. In diesem Fall kann man vielleicht doch von einer identischen Leerzeile reden wie bei identischen Reimen.
In der Nähe der leeren Leerzeile steht die ästhetische Leerzeile, die ’nur‘ der Textaufteilung auf einer Seite dient; die großzügige Leerzeile (auch doppelt, dreifach und mehrfach). Sie steht zwischen der strukturellen und der leeren Leerzeile.
Es ließe sich eine hierarchisch gegliedertes System der Leerzeilen formulieren – die Hierarchie hätte als Kriterium die Bedeutungsfülle (polyvalent bis absolut leer; die abolut leere Leerzeile wäre dann die Inversion der ästhetischen Leerzeile); hinzu kommen die verschiedenen Funktionen von Leerzeilen.
Interessant wäre dann auch die philosophische Herangehensweise an das bisher weitgehend linguistisch betrachtete Thema. Hier ginge es um die Meta-Leerzeilen.

Als Beispiel nenne ich die (noch)

ungeschriebene Zeile,

die undenkbare oder unschreibbare Zeile,

die transzendente Zeile.

Es geht hier – versuchsweise – um eine Poetik der Leerzeile bzw. um eine Poetik des ungeschriebenen und/oder unschreibbaren Textes. Vielleicht stoßen wir damit in eine Poesie vor, der die Abhängigkeit der geschriebenen Sprache von der Zeichenhaftigkeit überwindet, dergestalt, dass etwa ein leeres Notizbuch einen Roman darstellt, der vollständig vom Leser abhängt. Damit wäre der Autor überwunden, der Leser souverän. Der gelesene Text, der aus unendlich vielen Leerzeilen besteht, erreicht somit absolute Polyvalenz. Letztlich enthielte so ein Text aus unendlich vielen Leerzeilen nichts Geringeres als die Menge sämtlicher geschriebenen und ungeschriebenen Romane oder Gedichte, d. h. aller Texte. Den eben erwähnten leeren Notizblock stelle ich mir als Spiralblock vor, den ich unendlich lange umblättern kann. Im Prinzip genügt ein einziges Blatt, die Spirale kann entfallen, weil ich das Blatt einfach umdrehe, wenn ich unten angekommen bin.
Wenn die Poesie der leeren Zeile allgemein funktioniert, ist die herkömmliche Poesie aufgehoben. Vielleicht ist dann das Leben selbst zur Poesie geworden, sodass der Leser, der der Poesie der leeren Zeilen folgt, am Ende das Buch und damit alle Bücher fortwerfen kann. Er ist dann selbst zum Buch geworden und liest sich, indem er lebt.

 

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.