KLASSENTREFFEN

 

ich bin mit erwachsenen schulkameraden der dorfschule, in der ich eingeschult wurde, im oberen saal des gasthauses »Zum schwarzen Adler« am dorfplatz meines heimatdorfes. vom kalten büfett nehme ich nur wenig. meine erste klassenlehrerin, inzwischen 90 jahre alt, unterhält sich mit mir und sagt: »Sie haben mich ja noch als junge Frau gekannt.« eine unangenehm laute und stümperhafte amateurkapelle spielt diskomusik, wozu einige der gäste tanzen, vor allem frauen. ein junger mann betritt den saal, springt sofort hoch, knickt die beine ein und schlägt mit seinen füßen wie ein kranich bei der balz. danach greift er seine partnerin, die mit ihm kam, dreht sie ekstatisch im kreis, bis sie umzufallen droht, packt sie am genick und wirft sie gegen die wand, wo sie wie tot liegen bleibt.

unversehens sitzen die gleichen personen, jetzt mit eingefallenen gesichtern, in der kneipe unterm saal auf hockern an einem großen tisch, aus dem ein verbogener kerzenhalter wie eine totenhand ragt. die fensterläden sind geschlossen und nur eine kerze, die nicht herunterbrennt, erleuchtet hellgrün glimmend spärlich den raum, über dessen wände und tapeten graue und schwarze flechten und moose wachsen. unterm tisch liegen zerbrochene tonpfeifen, die knöcheln ähneln. bier wird aus kleinen fässern getrunken. die anwesenden spielen karten und würfeln. der wirt erscheint, ein kahlköpfiger bleicher mann mit wachsgelben händen, der mir unbekannt und zugleich bekannt vorkommt und sofort mitspielt. nach einer niederlage, über die er dreckig lacht, schreien die andern nun schrill und weinen kläglich, wie wenn sie ihr leben verspielt hätten. einer sticht, nachdem er verloren hat, seinen skatkartenfiguren die augen aus.

ich spiele nicht mit. plötzlich greift mich der wirt an der schulter, zieht mich vom hocker hoch und führt mich über eine steile treppe in einen kalten hell erleuchteten keller, der nach friedhof riecht. ich sehe alte verwitterte grabsteine und übereinander stehende särge, daneben mumien und skelette von toten, die wohl keinen sarg bekamen. ich drehe mich um und will den wirt danach fragen. doch er ist verschwunden. ich laufe die treppe hinauf und finde die tür nach oben verschlossen. aus der kneipe höre ich keinen laut mehr. ich gehe erneut hinab, denke, hier muß der eingang zur unterwelt sein, der nicht einmal bewacht wird, und erwache mit der frage, ob ich selbst der wächter vorm eigenen tor zur hölle bin.

 

 

***

Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2022

Radierung von Francisco de Goya

Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität. Hier findet sich eine Bejahung des Dissonanten, Disparaten und Divergenten, eine radikale Affirmation der Vielfalt des träumenden Subjekts. Benkel erweist sich in seinem Werk als Autor des Komplexen, er schafft fruchtbare Irritationen.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015