ich stehe als kind mit drei jahren neben meiner mutter im fleischerladen und sehe an der wand blutige fleischstücke hängen, die violett schimmern. plötzlich zeige ich auf das fleisch und rufe: »da, ein mensch, ein mensch!« meine mutter und einige der übrigen kunden versuchen, mich zu beruhigen. dem fleisch indes wachsen kopf und rumpf, arme und beine, hände und füße, augen, nase, mund und ohren. es zieht sich vorsichtig den fleischerhaken aus dem körper, hängt das metall ans gestänge zurück, steigt an der kachelwald hinab und hebt beschwörend die hände. unversehens wird die fleischerei dunkel und gleicht jetzt einem planetarium. und unter der gewölbten decke erscheinen leuchtende bilder und später schattenspiele von tieren und menschen in masken. ich erkenne bär, stier, adler, schwan, delphin und schlange und weiß momentan nicht, ob diese wesen wirklich im raum sind, oder ob ich sie bloß sehe. doch langsam verblassen die bilder wieder und parallel dazu schaltet sich, wie im theater zur pause und zum ende eines stückes, die deckenbeleuchtung ein. und die menschen in der fleischerei, die bis dahin erstarrt, aber vertieft, das geschehen betrachtet hatten, werden nach und nach zu messern, scheren, zangen und pinzetten verwandelt. manche bleiben als putz und tapete an der wand kleben, woran sie eben noch lehnten. und wiederum andere tanzen als schrauben, nägel, gewinde und scharniere am fußboden im kreise umher, wobei sie fortwährend gegeneinanderstoßen und klirrende geräusche verursachen. meine mutter hält sich mit beiden händen zugleich augen, mund und ohren zu. die inkarnation aus fleisch hingegen ist verschwunden. und ich stehe einsam inmitten des raumes im neonlicht der fleischerei.
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traumnotat aus reise im flug, von Holger Benkel, Verlag blaue Äpfel, Magdeburg 1995
Weiterführend →
In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.
kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.
meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.
Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013
Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.