Tief im Westen

Das Bewußtsein-Gebiet ist der neue Westen

Rolf Dieter Brinkmann

Die Reihe mit Büchern des Rhein-Eifel-Mosel-Verlag, in der insgesamt 680 Autoren aus den Rheinlanden (und gelegentlich darüber hinaus) vorgestellt werden, darf bundesweit als einzigartig für das Feld der auf das Regionale bezogenen Literatur bezeichnet werden.

Die KUNO-Redaktion blendet zurück:

junger westen war eine deutsche Künstlergruppe. Die Maler Emil Schumacher, Thomas Grochowiak, Heinrich Siepmann, Hans Werdehausen, Gustav Deppe sowie der Bildhauer Ernst Hermanns gründeten die Gruppe junger westen 1948 in Recklinghausen mit der Absicht, den in der Zeit des Nationalsozialismus verlorenen Anschluss an die Kunst der Moderne wiederherzustellen und in diesem Rahmen eigene künstlerische Ausdrucksformen zu finden, die in der industriell geprägten Region des Ruhrgebiets verwurzelt sein sollten. Auch die Förderung des Erfahrungsaustausches unter Künstlern wurde als Ziel gesehen; diesem Zweck dienten auch die Ausstellungen der Gruppe, zu denen zahlreiche Künstler eingeladen wurden, darunter Georg Meistermann, Hann Trier und Fritz Winter.

Und nun:

„Junger Westen“ nennt sich eine von Jochen Arlt herausgegebene Jubiläumsanthologie, die Erstveröffentlichungen von 122 meist jüngeren AutorInnen aus dem Rheinland und im weitesten Sinne angrenzenden Kommunen versammelt. Damit hat der Herausgeber mit seinem elften Band die Summe einer einzigartigen Edition für das Feld der auf das Regionale bezogenen Literatur vorgelegt. Waren die bisherigen Lesebücher jeweils einer bestimmten Region (z.B. die Domstadt, die Eifel, der Niederrhein – womit aus der weltsicht des Herausgebers die Landshauptstadt Düsseldorf gemeint ist!) gewidmet, so sind im vorliegenden Band alle bisherigen Regionen mit jeweils elf AutorInnen für die bisher erschienenen Lesebücher vertreten und zusätzlich auch noch das Ruhrgebeat.

Die in Junger Westen 11 vertretenen literarischen Texte spiegeln nahezu die gesamte Bandbreite der Literturformen wider. Das Spektrum der vertretenen AutorInnen reichen von modernen Klassikern wie Jürgen Becker über Bestsellerautoren (z.B. Petra Hammesfahr), JournlistInnen, Kabarettisten, Musiker bis zu Mundartdichtern oder ambitionierten Jungautoren, z.T. noch ohne Buchveröffentlichung bis hin zum Hörspielmacher A.J. Weigoni. Dementsprechend unterschiedlich sind die Themen und Ausdrucksmittel. Es gibt Feuilletons über rheinische Lebensart, Social-Beat-Texte, Trash-Literatur, Lyrik und Prosa.

Bedenkt man, wie vernichtend negativ die neuere deutsche Literatur von Chefkritikern in einschlägigen Feuilletons oder bestimmten Fernsehsendungen beurteilt wird, so kann man sich nur fragen, ob die betreffenden Kritiker der Vergangenheit nachtrauern oder den Blick für die Gegenwart verloren haben. Talente in großer Zahl sind in der Anthologie versammelt. Hier sieht man die ganze Spannbreite der Ausdrucksmöglichkeiten vertreten.

Wir lesen Roland Koch aus der Domstadt, er beschreibt in „Mostly Blues“ mit hintergründigem Humor die Bekanntschaft eines Jungautors mit einem älteren misanthropischen Schriftsteller, der von seinem Beruf und seinen Kollegen ernüchtert ist: „Es sind alles Arschlöcher, … die dort nach oben gekommen sind, … alles nur Geier und Wölfe.“ Durch seine Überzeichnungen wirkt die Erzähung komisch, wobei jedoch auch ernste Kritik sichtbar wird.

Mit einer ähnlichen lässigen Erzählhaltung schreibt Jochen Schimmang in „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ über einen Geschäftsmann und Philosophen für den Privatgebrauch, der nach einer durchzechten Nacht von seinem Freund vor der Ausnüchterungszelle bewahrt wird. Peter O. Chotjewitz ereifert sich in „Zaun drum und Eintritt nehmen“ über Kölner Polizisten und die Lokalpresse.

Ein weiteres Lesepeispiel. Frank Festa ist mit „Minutenleben“ eine gekonnte Parabel über die Befreiung vom Zeitdruck und das Verfolgt-werden von der ablaufenden Zeit geglückt. Locker wird das Thema angepackt und mit sicherer Ökonomie die Schwere des Gegenstands leicht dargeboten.

In „London“ beschreibt Dietmar Sous den Arbeitstag eines Mannes, der Wohnungen von Verstorbenen leerräumt. Anschaulich werden heutige Arbeitsverhältnisse und der Verlust von gefühlsmäßigen Bindungen protokolliert.

Dies sind nur einige der gelungenen Texte. Insgesamt sind alle der abgedruckten Texte lesenswert. Neben präzisen Prosaminiaturen (z.B. Thorsten Krämer, Alexander Bach, Christina Günther) gibt es auch viele gelungene Gedichte (z.B. Sabine Schiffner, Ute-Christine Krupp, Dorothée Haeseling) oder markante Kindheitserinnerungen von Alfred Miersch.

Zusätzlich wird jede Region eingeleitet mit einem informativen Interview. Darin erfährt man z.B., wie Dieter M. Gräf in Köln heimisch geworden ist, wie Gisbert Haefs beleidigt ist über die Kritik an der Übersetzung seines Bruders von Norfolks Roman „Lempriéres Wörterbuch“ oder wie Roland Adelmann Social Beat versteht und Charles Bukowski glorifiziert.

Alles in allem ist Junger Westen 11 eine gelungene und empfehlenswerte Edition, die Vorbild sein sollte für andere Regionen.

 

 

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Junger Westen 11, Lesebuch, herausgegeben von Jochen Arlt, Rhein-Eifel-Mosel-Verlag, Abtei Braunweiler, 1996

Die neuen technologischen Möglichkeiten nutzend ist einer Teilauflage eine CD mit Lesungen und Kurzhörspielen beigefügt, die als Zugabe die Vor-und Nachteile einer akustischen Literaturvermittlung dokumentiert und somit einen Einblick in die Audio-Art der 1990-er Jahre liefert. Dokumentiert wird an anderer Stelle, was in diesen Jahren begann, auf der Plattform vordenker.de mit der Reihe MetaPhon.

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