AUF DER ENDMORÄNE

 

mein vater läuft mit mir an der endmoräne nahe dem dorf meiner kindheit entlang. es erscheint der papst in entsprechendem gewand. mein vater bittet ihn, mich zu taufen. der papst aber weicht aus, erklärt, er müsse zuvor einen rundgang machen, und verschwindet wieder. wir warten. mein vater schreitet unruhig, wobei ich ihm folge, das gelände auf und ab und denkt laut darüber nach, wann und woher der papst zurückkehren könne. am hang eines heidnischen opferberges finden wir eine quelle, die mühsam und schmutzig unter einer müllkippe hervorsickert, um sich wenig später zwischen kieselsteinen zu verlieren. wir gehen an einem silberweiß blühenden wilden apfelbaum vorüber und erreichen eine höhle, deren eingang halb verschüttet hinter geröll verborgen liegt. auf augenhöhe entdecke ich ein eingemeißeltes sonnenrad, verwittert zwar, doch erkennbar, wie der kern in spiralen um sich selbst rotiert, während der festgefügte ring der äußeren hülle starr verharrt. ich ertaste im geschichteten stein einen spalt, der die form einer mondsichel hat und offenbar vor langer zeit vom wasser ausgewaschen wurde. ich stecke meine hand hindurch und berühre mit den fingern das feuchte pflanzengewebe, das über die inneren wände wächst. ich schaue hinein, rieche den moder in der luft und sehe im dämmerlicht schemenartig ein trichterartiges gewölbe, das tief ins gestein hinabzureichen scheint. ich wittere ein geheimnis darin und möchte verweilen. mein vater aber führt mich eilig fort von diesem ort. wir ersteigen den höchsten hügel und halten auf der kuppe ausschau. mein vater ruft flehend die schlucht hinunter, der papst möge erbarmen haben, sonst würde der satan seinen sohn taufen. da nähert sich von der angrenzenden landstraße ein motorradfahrer, stürzt, wirbelt durch die luft, schlägt mehrere artistische drehungen, klatscht auf und bleibt tot liegen. der leiche des verunglückten entsteigt satan und tauft mich mit blut.

***

 

traumnotat aus  reise im flug, von Holger Benkel, Verlag blaue Äpfel, Magdeburg 1995

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.