Das Hörspiel als Elaborat und Produkt

 

WEIGONI: Kein Rundgang durch das Pantheon der Hörspielgeschichte, die Bandbreite spannt sich von der öffentlichen Performance über das Live-Hörspiel, die Klanginstallation, bis hin zur Soundcollage. Robert, wenn du über die Öffentlich-Rechtlichen sprichst, redest du von Anstalten…
ROBERT STAUFFER: Mir ist aufgefallen, dass es sogar Funkhäuser gibt, die in ihrer früheren Nutzung einmal Krankenhäuser, Klöster oder Gefängnisse waren. Beim Bau des Funkhauses an der Nalepastrasse in Ostberlin (Berliner Rundfunk), dem Abschnitt der Redaktionszimmer, haben damals die Handwerker die Vermutung geäussert, es handle sich um komfortable Gefängniszellen.
WEIGONI: Der Weg vom schreibenden Autor zum veröffentlichten Autor war in den Printmedien relativ einfach, wenn Textcorpus, konzeptionelle Einigung mit Redakteur und Lektor vorausgesetzt, von der seriell reproduzierenden Stelle, dem Verleger, akzeptiert worden ist. Im Hörfunk scheint das komplizierter zu sein?
STAUFFER: Ich gehe davon aus, dass die Viererbande zum Zustandekommen eines Hörspiels personell je nach materiellen Notwendigkeiten und kreativen Emissionen orchestriert ist, d. h. nicht nur aus je einer Person besteht. Aber eines ist unabdingbar: der Autor, entweder als Initiant zum Hörspiel oder als Ghostwriter. Symbiotisch zusammenarbeitende Autorenteams sind immer noch eine Seltenheit. Auffallend ist, dass es meistens keine Teams von Autorinnen sind. Und man müsste davon ausgehen, dass Hörspielabteilungsleiter, Lektoren, Dramaturgen, Regisseure und Tontechniker handwerklich die Elemente des Hörspiels so beherrschen, dass sie – interdisziplinär – permanent Hörspielmacher sind oder sein könnten, d. h. konkret und sehr im Gegensatz etwa zum Job von Politikern: von einem Hörspielabteilungsleiter, einem Lektor, einem Dramaturgen sollte man erwarten, dass er – zumindest einmal – ein Autor war, ein Schriftsteller, ein Lyriker, ein Wortinstallateur. Von den technischen Aufnahmeverfahren, analog und digital, sollten sie mindestens so viel verstehen, wie Tontechniker von ästhetischen Literaturperioden seit der Etablierung der Genres Hörspiel und Feature. Lektoren, Dramaturgen und Hörspiel-Tontechniker der ARD müssten alle drei oder vier Jahre einmal aus ihren Anstalten für einige Zeit in der freien und kommerziellen Wirtschaft Bildungsurlaubsarbeit aufnehmen können. Ich greife damit einige starr gewordene Berufsvorbilder und Berufsbilder an, und ich tue dies als Autor, der beobachten konnte, wie gross die Gefahr der professionellen Deformation in Hörspielabteilungen sein kann, wenn auf dem Gebiet der Ästhetikvermittlung von Literatur und von Soundpoetry profilierter Manierismus und Spezialistentum zur Routine werden. Es gibt kaum einen Schriftsteller, der mit Erreichung des Pensionsalters aufhört zu schreiben, aber Redakteure und Dramaturgen, seltener schon Regisseure, hören dann wie ein Eisenbahner oder ein Briefausträger einfach auf und krächzen noch ein paar Jährchen. Das waren ideale Voraussetzungen, die ich hier propagiere.
WEIGONI: Was ist mit dem Autor, welche Funktion hat er?
STAUFFER: In den 50-er und 60-er Jahren ist der Autor in der Regel der Ablieferer eines Hörspielmanuskriptes gewesen. Dieses lief in den Hörspielabteilungen der ARD-Anstalten durch die Desinfektionskanäle von Aussen- und Innenlektorat, landete, ohne vorausgegangene Anamnese von Autor und Text, wegen der inhärenten Konsistenz der Einreichung, und weil man sich vorstellen konnte, dass daraus ein Hörspiel zu machen sei, beim Dramaturgen und danach in der Produktion. Hörspiele sind so entstanden, die, je nach Opulenz einer Abteilung, sich auch eine Stück- und Werksdramaturgie leisten konnte. Zum Berühren des Tonbandes, zur Schneidekompetenz ist dieser Autor kaum je gekommen. Er blieb in der Regel von der Produktion ausgeschlossen, ja legte gar keinen Wert darauf oder hielt die Etappen von der Reinschrift des Manuskriptes, der Besetzung, bis hin zu den Aufnahmen und der Abmischung für unliterarisch. Regisseure hatten es oft auch nicht gerne, bei der Arbeit im Studio durch die Anwesenheit eines Autors gestört zu werden. Ich rede von einer Generation von Hörspielautoren, die damals recht technikskeptisch oder gar technikfeindlich waren, übrigens ein ausgeprägt deutsches und kultur- und geistesgeschichtliches Phänomen, das im romanischen und angloamerikanischen Raum nie existiert hat. Vielleicht aber hat sich gerade durch die Hierarchisierung des Produktionsprozesses des Hörspiels das deutschsprachige zu einem so hohem Rang entwickelt. Mit wenigen Ausnahmen sind z. B. die Gebrauchshörspiele in Frankreich und in Italien immer noch radiospectacles.
WEIGONI: Mit dem sogenannten Neuen Hörspiel änderte sich diese Arbeitsweise.
STAUFFER: Ab den 70-er Jahren haben Autoren, auch bestimmt durch die verbesserten Empfangsbedingungen von Rundfunksendungen zum Empfänger selbst, aber auch zum Sender, ein Nahverhältnis bekommen, es wurde bei der preislichen Erschwinglichkeit der Aufzeichnungsgeräte möglich, selber Aufnahmen zu machen: so wurde das O-Ton-Hörspiel, meistens mit einem gesellschaftspolitischen und sozialen Touch, entwickelt. Es war dann auch oft ein Hörspiel, von dem es kein Manuskript gab, und wenn, dann musste der O-Ton abgeschrieben werden. Hier ist – so unbedeutend es erscheinen mag – der Wendepunkt verborgen, aus dem sich das Audiospiel mit dem magnetisierten Band zuerst bei den Autoren entwickelt hat. Konventionellerweise schneidet man längere O-Ton-Passagen von gesprochenem Wort nach einer vorher erfolgten Ganzabschrift oder einem Stichwortenotat, redigiert quasi im Text und schneidet weitgehend dementsprechend. Der Autor, der die Aufnahme selber gemacht hat, lernt in kürzester Zeit, im fliessenden Feld von Geräuschen und von Sprache schwimmend, vor allem nach akustischen Wirkungen zu schneiden. Das Material, schon vorstrukturiert und mit einem intentionellen Impetus aufgenommen, wird kompositorisch vor allem nach induzierten Spannungen sortiert und montiert. Das Hörspiel mit dem Legato des ganz persönlichen Sprachausdrucksvermögens des Autors entsteht so, ja, es kann dabei auch zu partiellem Agrammatismus kommen. Ein Phänomen und stilistischer Reiz der konkreten Poesie und der aus ihr weiterentwickelten Hörspiele. Dennoch, wir wissen alle, Ernst Jandl z. B. ist noch nicht der Hörspielautor, der am Schneidetisch oder am Computer seine eigene Audio-Literatur elaboriert. Und wenn ein Autor das möchte, das technisch vielleicht auch schon könnte, dann muss er in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gehen und fragen: „Darf ich mal?“
WEIGONI: Ist Audio-Art fast immer auch „Anstalt-Art“?
STAUFFER: Viele Produktionen der Vierecksbeziehung Autor, Lektor, Dramaturg und Regisseur hören sich bei öffentlichen Performances, konzertanten Live-Hörspielaufführungen, Klanginstallationen und Readytapes faszinierend gut an. Das akustische Volumen und die Dynamik können mit entsprechenden Schallträgern auf höchstem Niveau übertragen werden, bei einer funkhausinternen Abhörsituation geradezu ideal, jedoch die Empfangs- und Wiedergabeverhältnisse beim einzelnen, auf eine gewisse Weise nahezu autistischen, bei einem Radiohörer mit seinen zwei oder vier Lautsprechern in der Wohnung, sinken dagegen ungeheuerlich krass ab. Es wird ein Produkt von technischer und ästhetischer Brillanz erzeugt, das weit unter seinem Level zur Distribution gelangt. Der Autor und die Anstalt, später auch vielleicht eine Hörspielpreis-Jury, sind begeistert.
WEIGONI: Die Pop-Musiker, mit denen ich zusammenarbeite, sind mit einer Produktion erst zufrieden, wenn der Sound auch mit einer Compact-Cassette in einem Autoradio rüberkommt.
STAUFFER: In den 70-er Jahren sah auch ich noch eine Möglichkeit, diesen Qualitätsverlust darin aufzufangen, dass das Anhören mit Kopfhörern geschah. Abverlangt man dem heutigen Hörer im Auto, im ICE, im Flugzeug oder auf dem Bärenfell sitzend, dass er zum Hörspiel wie zu einer Ohrenbeichte oder einer Meditationsübung gelangt. Abstrakte Tongebilde, für die man „einen Büchsenöffner mitliefern müsste“, bemerkte unlängst der deutschschweizerische Hörspielleiter Franziskus Abgottspon, könne er seinem gemeinten Publikum nicht zumuten.
WEIGONI: Das mag für das Schweizerdeutsche Publikum gelten…
STAUFFER: Die „Büchse“ Hörspiel steht heute schon als Sekundärverwertungsprodukt in Form von Compactdisc und Audiocassette auf Regalen in den Buchhandlungen, als Vollkonserve mit vermeintlich unbegrenzter Haltbarkeit. Praxis ist, dass eine jüngere Generation von Autoren ihre Lektoren und Dramaturgen in den Anstalten suchen muss, dort, wo die Produktionsmittel stehen, die Infrastruktur fürs Aufzeichnen, für die Sendung und das Management für die öffentliche Hörspielaufführung vorhanden sind.
WEIGONI: Sind das aber noch Autoren, die von der Belletristik herkommen?
STAUFFER: Ich frage nach den Graden von ausserliterarischer Sympathie, warum virtuell erzeugte Literatursegmente mehr Chancen zu haben scheinen, „verhörspielwurstelt“ zu werden als primarliterarische Entwürfe? Du kennst die Programmhefte der deutschen Sprechbühnen der 70-er und 80-er Jahre, vorwiegend für Theaterstücke der klassischen Dramatik: Materialsammlungen, Wühltische aller möglichen Aspektuierungen, aber auf der Bühne wurde nur geflüstert oder heftig geschrien, alles war offen, hätte auch nicht gespielt werden müssen, wurde demonstrativ elaboriert. Die Totale dieser Informationen, hätte man sie auch noch dem Publikum vorgelesen, wäre schon ein Schallspiel gewesen, bestehend aus Germanistik- und Literaturkritikabsonderungen, vermengt mit vergoldetem Politshit von Napoleon bis Hitler, Betroffenheitstexten, effektvollen Rillensprüngen und Botanisierungsmetaphern.
WEIGONI: Verklärte man das nicht in den 80-ern als Postmoderne?
STAUFFER: Trendspurennachhopser brauchen nicht viel Erklärung und Rechtfertigung. Erfüllt von Hörhunger, halten sie zusammen und rückversichern sich permanent in ihren Treibhauspositionen und Bestandsgarantien. Das Elaborat wird ins amorphe Hörohr gesendet, weitgehend vor und für Kollegen, die nicht kontrollieren, ob die Produktion auch wirklich einlöst, was sie, z. B. mit einem audioärchologischen Titel, ankündigt, geschweige denn dabei die Rezeptionsfähigkeit der Hörer berücksichtigt.
WEIGONI: Ich habe den Eindruck, dass sehr viele Autoren mit ihren Text-Einreichungen bei Hörspielabteilungen überhaupt nicht mehr zum Zug kommen, sie erhalten keine Chance, sich mit den Redakteuren und Dramaturgen zu besprechen; sie bekommen durch das Lektorat Formschreiben oder gewunden formulierte, abschlägige Bescheide.
STAUFFER: Mit dem alten Kalauer des Aristoteles „Sprich, damit ich dich sehe“, der Ende der 50-er Jahre vom norddeutschen Hörspielpapst als Motivations-, Gattungs- und Rechtfertigungsslogan gleichzeitig auch zum Label des deutschsprachigen Hörspiels gemacht wurde, hat das Hörspiel seine Zukunft seit der Eröffnung des überfliessenden Sehvermögens der Massenkommunikationsmittel Fernsehen, gerade rechtzeitig hinter sich gebracht.
WEIGONI: Dennoch schreibt der Schriftsteller gelegentlich auch Hörspiele, produzieren die Anstalten, strahlen die Sender aus.
STAUFFER: Man hat Spielregeln einzuhalten, Termine, Kostenpunkte, vor allem aber Diskretion beim Nennen von Marken- Firmen- und Parteiennamen zu wahren. Auf keinen Fall darf sich ein Autor in seinem Hörstück mit der pharmazeutischen oder alkoholerzeugenden Industrie befassen, und wenn mit den Kriegen der Gegenwart, dann mit dem Geräusch der Schüsse, nicht mit der Rüstungsindustrie.
WEIGONI: Noch aber, noch wird in den Anstalten täglich kulturelle Bedeutung produziert…
STAUFFER: In Deutschland laufen jährlich, grob gerechnet, 3.900 Hörspiele über die Sender, davon haben gut zwei Drittel unterhaltenden Charakter, und nur ein Drittel ist in sogenannten Minderheitenprogrammen platziert. Aber fast jedes Spiel ist zu lang – eine Pausenfüllung bei offenem Regler. Vom Medium zur Rezeption der Sofortnachricht erzogen, empfängt der Hörer die Stücke wie in Zeitlupentempo aufgenommene und wiedergegebene Attentate.
WEIGONI: Keine Chance haben und sie dennoch nutzen?
STAUFFER: Nicht zufällig bedient sich die kommerzielle Werbung im Rundfunk immer häufiger der Hörspielform, um durch diese terroristischen Anschläge den Absatz vorzubereiten. Wenn überhaupt, dann hat die Form des Hörspiels in dieser Ausformung ein sordiniertes Comeback vor sich.
WEIGONI: Dann liege ich mit meinen Literaturclips so falsch nicht…
STAUFFER: Auf dem Meer des Hörspiels und der Soundpoetry wird man in Zukunft auch ohne die staatsvertraglich festverankerten Anstaltsschiffe surfen können. Es ist rührend zu wissen, dass das Originalmanuskript des von Günter Eich für den Nordwestdeutschen Rundfunk geschriebenen und am 19. 04. 1951 erstgesendeten, berühmt gewordenen Hörspiels „Träume“, bei der Grundsteinlegung des Hamburger Funkhausneubaus am Rothenbaum mit ins Fundament eingemauert wurde. Dieser Spezifika steht das Motto zu diesem Hörspiel und seinen zwei Varianten gegenüber: „Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht! Schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“ Die Ordner der Hörspielwelt in den deutschsprachigen Räumen sitzen nach Schätzungen allein für die ARD-Anstalten auf über 25.000 Hörspielproduktionen, die sie in ihren Kellern und Archiven lagern. Das ist eine Audiothek imaginärer und permanenter Schallspiele, die dem Hörer nur in dosierten Portionen ins Ohr gespielt wird.
WEIGONI: Wie lassen sich Inhalte zukünftig vermarkten?
STAUFFER: Der Warencharakter Hörspiel sollte so rasch wie möglich durch moderne Distributions- und Weiterverwendungsformen, Cassette, CD und evtl. auch per „Radio on demande“, verändert werden. Jeder Hörer sollte seine eigene Hörspiel-Audiothek aufbauen können. Die alten Flaggkähne der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanbieter haben die Aufgabe, Merchandising fürs Hörspiel zu betreiben, d. h. nicht nur absatzpolitische Massnahmen von Seiten des Herstellers, um beim Einzelhandel den Absatz zu steigern, sondern auch Werbemassnahmen in Richtung wahrnehmungspsychologischer Didaktik und Medienerziehung.
WEIGONI: Diese Überlegungen kann ich unterstreichen, sie gehen in die Richtung der literaturpädagogischen Projekte, die 1998 mit dem VS-Projekt, auf der CD »Ohryeure«, dokumentiert sind. Es handelt sich dabei um Hörspiele, die nicht von cleveren Marketingexperten für eine Zielgruppe zurechtgestutzt, sondern mit den Jugendlichen und JungautorInnen gemeinsam erarbeitet und umgesetzt wurden. Hörspiel als Pop-Song, Popsongs als Hörspiel, Hörspiele, die sich tanzen lassen. Wir, die Spätalphabeten, stehen insgesamt vor der Frage, ob Literatur, dieses Medium der Vorzeit, an der Alphabetisierung der Medienkultur, die nur wirklich beeinflussen kann, wer ihr voraus ist, mitwirken oder sich von letzterer abgrenzen kann. Welche Einflussphären bleiben der Literatur gegenüber einer Kommunikationslandschaft, die vielfach entweder zum Selbstzweck gerät oder unausgesprochenen Interessen dient? Mir scheint, dass sich diese Form von literaturpädagogischer Arbeit nicht nur mit Erscheinungsformen und Problemen der Arbeitswelt befasst, sondern sich zukünftigen Arbeitsfeldern spielerisch annähert.

 

 

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Um den Bücherberg nicht zu vergrössern war dieses Buch als Printing on demand erhältlich. Die digitalisierten Daten konnten  abgerufen und in kleineren Stückzahlen gedruckt werden.
Dieser Band war als bibliophile Vorzugsausgabe erhältlich über den Ventil-Verlag, Mainz.

Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche  ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt.

Einen Essay zu dieser Reihe finden Sie hier.