WEIGONI: Man muss Geschichten erzählen, um Kinder in den Bann zu ziehen.
WOLFGANG KAMMER: Keine Frage!
WEIGONI: Gerade dieser Markt wird von Marketingexperten für eine Zielgruppe zurechtgestutzt. Wie kommt man als Schriftsteller an sein Publikum heran?
KAMMER: Da ich überwiegend Jugendbücher schreibe, mache ich in der Regel Lesungen vor Jugendlichen und Kindern, meistens in Schulen.
WEIGONI: Konkret: Wie kann man sich das vorstellen?
KAMMER: Bei einer Schullesung in einem Gymnasium am linken Niederrhein wurde ich von einem Oberstudienrat empfangen. „Die Aula ist voll besetzt, vier neunte und vier zehnte Klassen. Die Schüler warten bereits.“ Anstatt in die Aula, führt mich der Oberstudienrat zunächst an den Lehrerzimmern und an einem Sekretariat vorbei. Vor dem Zimmer des Schulleiters warten wir. „Der Oberstudiendirektor legt Wert darauf, Sie kennenzulernen“, erklärt der Rat flüsternd, „da müssen die Schüler eben noch ein bisschen warten.“ Dann klopft er zaghaft gegen eine schallisolierte Tür. „Unser heutiger Autor“, stellt er mich einem Hünen von Mann vor, der noch an seinem Schreibtisch sitzt und arbeitet. Der Oberstudiendirektor erhebt sich, knöpft sich die Jacke zu und kommt mir jovial einige Schritte entgegen. Unter Weglassung seines Doktortitels nennt er seinen Namen und fordert mich auf, Platz zu nehmen. „Literatur und Sprache, eminent wichtig, kann man sich gar nicht genug für einsetzen. Sprache repräsentiert unsere Kultur. Was ich schon immer wissen wollte, kann man vom Schreiben leben?“ „Es gibt Autoren in Deutschland, die vom Schreiben leben können. Aber die meisten arbeiten noch in einem bürgerlichen Beruf.“ Der Oberstudiendirektor runzelte nachdenklich die Stirn. „Wissen Sie, ich wollte auch schon immer mal ein Buch schreiben, aber keine Zeit, nein, keine Zeit. Wenn ich pensioniert bin dann, dann vielleicht. Aber darf ich Sie einmal fragen, welchen Beruf Sie ausüben?“ Ich schaute diesem Mann, der mich so höflich behandelte und der sich so für mich interessierte, offen in die Augen. „Ich bin Lehrer“. Dem Oberstudiendirektor rollten fast die Augen aus dem Kopf. „Dann wissen Sie ja, was ich zu tun habe.“ Jedes Interesse an mir erlosch.
WEIGONI: Muss man sich als Nebenerwerbsautor immer rechtfertigen?
KAMMER: Ja, besonders darum, weil die Einkünfte der Autoren meistens überschätzt werden.
WEIGONI: So schaut’s aus. Was wollen die Schüler wissen?
KAMMER: Es kommt immer wieder in den Gesprächen und Diskussionen zu den gleichen Fragen, die mir im übrigen auch Erwachsene regelmässig stellen.
WEIGONI: Die lauten wie?
KAMMER: Seit wann schreiben Sie? Warum schreiben Sie? Woher haben Sie das Material? Machen Sie die Bilder selbst? Schreiben Sie mit der Hand oder mit dem Computer? Entstehen die Geschichten zuerst im Kopf, dann auf dem Papier? Ist das, was Sie schreiben, Fiktion oder Wirklichkeit? Wieviel von dem ist authentisch? Wieviel verdienen Sie? Sind sie verheiratet? Haben sie Kinder? Haben Sie einen Hund? Können Sie vom Schreiben leben? Wie kommen Sie eigentlich auf die Ideen? Was erreichen Sie mit Ihren Texten? Wie entsteht ein Text?
WEIGONI: Wie lauten die wichtigsten Fragen?
Kammer: Woher haben Sie die Ideen? Wie entsteht ein Text? Vielleicht hilft es, wenn man mal ein wenig über diese Fragen nachdenkt. Das Laienhafte, Nichtwissenschaftliche, was ich dir jetzt schreibe ist mir so spontan eingefallen, hat mir allerdings auch geholfen, etwas zu begreifen: Ideen? Gedanken, Aufhänger, Einfälle, entstehen im Kopf, durch Zufall, durch Nachdenken, im eigenen Kopf, im fremden Kopf, durch äussere Ereignisse, Erlebnisse, durch Farben, Formen, Geräusche, Wahrnehmungen und Assoziationen. Ideen können geklaut werden, es gibt das sogenannte Plagiat…
WEIGONI: Seitdem einige postmoderne Zeichentheoretiker es als Palimpsest tarnen und als intertextuelles Puzzle präsentieren können nicht mehr…
KAMMER: Ich dachte es gilt nur im Bereich der freien Wirtschaft, z.B. in Werbeagenturen und ähnlichen Einrichtungen, wo das ganz anders empfunden wird.
WEIGONI: Dort kann man Original nicht von der Kopie unterscheiden und es gilt das Motto: Besser gut gekupfert, als schlecht selbstgemacht.
KAMMER: Die Idee ist meiner Auffassung nach zunächst eine differenzierte oder undifferenzierte Vorstellung von irgend etwas, ein Gedanke, flüchtig und leicht, mit dem man sich beschäftigt. Es kann Musik sein, die einen inspiriert, es können Bilder oder Figuren sein, die Natur kann es sein, etwas was einen ärgert oder Freude bereitet.
WEIGONI: Die Frage lautet: Was macht jemand aus seinen Vorstellungen, seinen Erlebnissen und den Ereignissen, die um einen herum passieren?
KAMMER: Will man überhaupt etwas daraus machen? Will man seine Gedanken gestalten?
WEIGONI: Letztlich: Will man seine Gedanken literarisieren?
Kammer: Die Ideen entwickeln sich meines Erachtens aus dem Alltag, aus dem, weitestgehend, kritischen Denken. Wir denken doch ständig über etwas nach. Wir denken über einen Verkehrsteilnehmer nach, der uns die Vorfahrt genommen hat, über den Kellner, der uns unhöflich bedient hat, über das Kind, das uns angelogen hat. Über den Ehepartner, der einem Freude gemacht hat, über den Nachbarn, der zu laut lacht oder zur falschen Zeit den Rasen mäht. Über das Geld, das mal wieder vorne und hinten nicht reicht und über den Polizisten, der einem dreissig Mark abknöpft und einem dann mit dem freundlichsten Gesicht noch einen ‘schönen Abend’ wünscht usw. und so fort…
WEIGONI: Hast du ein anschauliches Beispiel dafür?
KAMMER: Letzten Samstag komme ich in Neuss aus dem Café Küppers, gehe über den Markt und treffe Knut Elsenbroich, den ich schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen und gesprochen hatte. Freundlich tauschten wir einige Höflichkeiten aus und bestätigten uns unserer noch immer vorhandenen Freundschaft. „Mensch“, sagte Knut plötzlich engagiert, „weisst du, was ich gemacht habe? Das errätst du nie…“ Ich dachte einen Moment nach und schüttelte den Kopf. Knut triumphierte. „Ich war angeln“, sagte er und lächelte stolz. Ich staunte wirklich. Seit zwanzig kannte ich Knut und konnte kaum glauben, dass er, der mir niemals etwas von einem derartigen Hobby erzählt hatte, angeln gegangen war. Ich schloss für einige Momente die Augen und erinnerte meine Kindheit, die ich in der Nähe von Hamburg, in einem strohgedeckten Fachwerkhaus verlebt hatte. Das Haus lag unmittelbar an einem grösseren See, der vor einigen hundert Jahren durch einen Elbeinbruch und einer alles überschwemmenden Sturmflut entstanden war. An diesem See hatte ich mit meinen Freunden gespielt, gebadet und geangelt. Weissfische waren es hauptsächlich gewesen, Rotaugen und Brassen. Aber auch Zander, Barsche, Hechte, Schleie und Aale. Auf Aale gingen wir mit dem hellen Fleisch der Wollhandkrabben. Teichrosen wuchsen an unserem See, Fitis und Buchfink zwitscherten dort, das grünfüssige Teichhuhn pickte ungestört im Uferbereich nach Larven und kleinen Käfern, und jede Menge Libellen schwirrten über das üppig gedeihende Schilf. Das Feuer der Erinnerung wärmte mich, und während ich an die goldbraun gebratenen Fische dachte, die wir mit Heisshunger am Lagerfeuer verzehrt hatten, sagte ich: „Knut, wenn du mal wieder angeln gehst, dann komme ich mit.“ Einige Wochen später, an einem Sonntagmorgen, war es soweit. Pünktlich um sechs Uhr fuhren Knut und ich auf der Autobahn in Richtung Holland. Nach vierzig Minuten wechselten wir auf eine Bundesstrasse und später auf eine Landstrasse. Wir durchquerten einige Dörfer und kamen in freies Gelände. Knut bog in einen Feldweg ein und steuerte auf ein umzäuntes Grundstück zu. „Wir sind da“, sagte er unerwartet, und seine Augen leuchteten begeistert. Ich schaute mich um. Wo waren wir hingeraten? Wo war der versprochene See? Das einzige, was ich sah, war ein graues, trübes Wasserloch. Es hatte einen Durchmesser von ungefähr fünfzig Metern. Kein Baum, kein Strauch, keine Seerose. Kein Teichhuhn, kein Fitis, keine Libelle. Grabesstille. Am Ufer, das nur spärlich mit einigen umweltharten Wildpflanzen bewachsen war, standen einige graugrün gekleidete Männer. Knut riss mich aus meinen Betrachtungen. „Wir sind spät“, sagte er, kritisch die Nase rümpfend. „Aber es geht noch.“ Er stieg in seine Gummistiefel, raffte emsig seine Angeln, Blinker und Haken zusammen und stampfte los. Zwischen den Männern, die rauchten und leise miteinander sprachen, fanden wir eine Lücke. „Geschafft. Wenn wir Glück haben, kommen wir mit einigen frischgefangenen Forellen nach Hause.“ Ich schaute mich noch einmal um und hob etwas unsicher die Schultern. „Knut…“, wagte ich zu sagen. Ich zeigte auf die anderen Leute. „Knut, hier angelt ja niemand.“ Mein Freund schaute mich milde an. „Das kannst du nicht wissen“, erklärte er kopfschüttelnd und verständnisvoll, „…aber, es sind noch keine Fische da.“ „Noch keine Fisch…?“ Der Satz blieb mir förmlich im Halse stecken. „Noch keine Fische da?“ „Noch keine Fische…“, bestätigte Knut und wandte sich dann den anderen Anglern zu. Es dauerte und dauerte. Die Lücken zwischen den Wartenden schlossen sich mehr und mehr. „Die besten Plätze sind weg“, raunte mir Knut zu, „wer zu spät kommt, den bestraft…“ „…das Leben“, ergänzte ich und zeigte ein hilfloses Grinsen. Von weit her näherte sich ein Pritschenwagen, der erst unmittelbar am Wasser stoppte. Zwei Männer in Arbeitskleidung stiegen aus. Den Tümpel geschäftsmässig abschreitend, kassierten sie von jedem der willigen Fischer zehn Mark. Anschliessend gingen sie zurück zu ihrem Transporter. Dort angekommen öffneten sie einen grossen Holzzuber. Mit einem Kescher entnahmen sie insgesamt dreissig ausgehungerte Forellen unterschiedlicher Grösse und setzten sie in der Uferzone des Teiches an verschiedenen Stellen aus. Ich wollte nicht glauben, was ich sah. Campinghocker fielen nach hinten um. Zigarettenkippen verglühten plötzlich zischend im Wasser. Spulen surrten. Blinker flogen hastig geworfen durch die Luft. Die Sehnen der einen Angler verfingen sich zum Teil mit denen der anderen. Fluchen und Schimpfen, Ächzen und Stöhnen. Hier und da sah man einen Angler, der, unter den neidvollen Blicken der anderen, einen silbrig glänzenden und durchaus lebendigen Fisch aus dem Wasser zog. Nach gut einer Stunde waren achtundzwanzig der ausgesetzten Fische gefangen. Die meisten Angler packten ihre Jagdgeschirre wieder ein. Einige waren sehr enttäuscht, andere überglücklich. Nur wenige blieben noch. Knut hatte nichts gefangen. „So ist es eben“, erklärte er gefasst. „Aber, es ist so elementar.“ „Ja“, sagte ich verständnisvoll, „aber vielleicht hast du beim nächsten Mal ja mehr Glück.“
WEIGONI: Auch wenn diese Schilderung nicht erfunden ist, so ist sie immerhin wahr… Kommen wir von der Realsatire zurück zum Text!
KAMMER: Da ist eine Idee, ein Schreibanlass, ein Grund, eine Moral, und da ist der Wunsch, etwas daraus zu machen. Ich glaube, die Geniale Idee gibt es nicht. Sie ist immer Produkt emsigen Bemühens. Da liegt vor einem Papier, da liegt ein Bleistift und das ist die Herausforderung. Da sind Zeichen in Form von Buchstaben, aus denen man Wörter bildet, die in eine Beziehung zueinander treten, aus denen man Sätze formt, mit denen man etwas aussagen kann. Diese Sätze haben einen Rhythmus und eine Satzmelodie, sie dokumentieren etwas, interpretieren etwas, drücken Wahrheiten aus oder Lügen, wecken angenehme, warme Gefühle, oder eben kalte und abweisende. Sie lösen Angst, Hass oder Aggressionen aus. Darüber muss sich ein Autor im klaren sein.
WEIGONI: Warum also schreibst du?
KAMMER: Aus verschiedenen Gründen: Aus Lust, aus Frust, aus Eitelkeit, aus Sehnsucht nach sozialer Beachtung … und weil ich Geld verdienen möchte. Und damit komme ich zu der Frage, die mir die Kinder häufig stellen, und die mir auch der Oberstudiendirektor gestellt hatte: „Können Sie vom Schreiben leben?“
WEIGONI: Na?
KAMMER: Vom Schreiben leben ist ein Schritt ins Profilager und ich glaube, dieser Schritt vollzieht sich, wenn ein Autor auf ein gewisses Mass von Selbstgefälligkeit verzichtet und bereit ist, für den Markt zu schreiben. Das, was ihm wichtig ist, braucht er deswegen nicht zu vergessen. Die Welt der Schreibenden hat sich verändert. Es schreiben einfach mehr Menschen, für noch mehr Menschen, die in unserer schnelllebigen Zeit, keine Zeit mehr haben. Sie geben sich mit visualisierten „Fast-food-Geschichten“ zufrieden. Das muss begriffen werden.
WEIGONI: Kinder und Jugendliche sind aus meiner Sicht das anspruchsvollste Publikum. Sie zeigen dir sofort, was sie von deiner Geschichte halten und machen sich nicht die Mühe ihre Langeweile hinter kulturellem Interesse zu verstecken. Das ist eine Herausforderung, wie wirst du ihr gerecht?
KAMMER: Ich versuche ihr gerecht zu werden, indem ich realistische Geschichten erzähle, Geschichten, die der Wahrheit sehr nahe kommen. Dazu gehört eine gründliche Recherche, eine zeitgemässe Sprache und vor allen Dingen das Unterlassen von Bevormundungen.
***
Weiterführend →
Um den Bücherberg nicht zu vergrössern war dieses Buch als Printing on demand erhältlich. Die digitalisierten Daten konnten abgerufen und in kleineren Stückzahlen gedruckt werden.
Dieser Band war als bibliophile Vorzugsausgabe erhältlich über den Ventil-Verlag, Mainz.
Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt.
Einen Essay zu dieser Reihe finden Sie hier.