EISLAND

 

ich stehe auf einer eisfläche. unter mir liegen blaugrau geborstene schollen, die ineinander verkeilt sind. an anderen stellen glänzt das eis durchsichtig wie glas. ich überlege, welcher zustand gefährlicher ist. da erblicke ich einen riesen, der mir von einem gletscherberg herab entgegenkommt. ich kauere mich hinter ein verdorrtes gesträuch, dessen äste steifgefroren mein gesicht berühren. der riese wirft eisstücke und steinbrocken nach mir, die mich jedoch verfehlen und statt mir das eis durchschlagen, so daß überall um mich herum wasserlöcher aufreißen.

ich laufe davon und spüre, wie auf meinem gesicht hunderte winzige blasen aufplatzen und eine milchige flüssigkeit ausströmt, die pflanzensaft ähnelt. ich fliehe weiter und das knirschen der eisschicht unter meinen füßen vermischt sich mit dem dumpfen ton der schritte des riesen, der aufgrund seines gewichts nur mühsam vorankommt und mich dennoch fortgesetzt verfolgt und nach mir wirft.

ich bemerke, daß kalkfarbene hautfetzen von meinem gesicht abplatzen und offene, poröse stellen zurücklassen. ich taumle ins halbdunkel des eintretenden abends. ich stoße gegen einen baumstumpf, der schroff in der landschaft aufragt. ich halte mich daran fest und lege meine hand darauf. da wächst eine frauengestalt mit schneeweißem gesicht und goldgelben locken daraus hervor, erhebt ihre arme ausgreifend zum himmel, wo sofort, hell wie ein wasser oder leib, der volle mond aufscheint, dessen licht meine haut wieder glättet, während der riese uns erreicht und die frau ihre kleidung abwirft und sich ihm hingibt, so daß ich entkommen kann.

 

 

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traumnotat aus reise im flug, von Holger Benkel, Verlag blaue Äpfel, Magdeburg 1995

Weiterführend

 

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.