Da sitzen sie nun wieder etwas gezwungen mit ihren unergründlichen Gesichtern. Ein süßlich-künstlicher Hauch liegt in der Luft. Die Geruchsstoffe von Energielimonaden bestimmter Hersteller sind so extrem, dass man sich an das Erbrochene erinnert fühlt, welches sich nach langen Partynächten auf den Bürgersteigen der Innenstädte findet und beim Vorbeigehen Würgereize auslöst. Sie haben ihre Kommunikationsmedien ausgeschaltet zur Seite gelegt, vielleicht gar nicht erst mitgebracht. Alle wissen, dass es jetzt um die Wurst geht. Wer patzt, der kann durchaus Probleme bekommen. Jede und jeder muss nun zeigen, ob die Zeit der Vorbereitung sinnvoll genutzt wurde. Herr Nipp denkt an die eigenen Prüfungen, meistens war er morgens mit flauem Gefühl aufgewacht, hatte kaum etwas essen können, weil der Magen rebellierte. Der ganze Körper sorgte mit einem Übermaß der Ausschüttung von Stresshormonen für ein Unwohlsein. Vielleicht war es doch nicht so schlau gewesen, so wenig zu lernen. Vielleicht hätte auch er sich den Lerngruppen seiner Mitschüler und später der Kommilitonen anschließen sollen. Vielleicht hätte er vorher nicht auf „cool“ machen sollen. Sobald er dann allerdings saß, setzte der Hunger ein, weil die Aufgaben eben doch nicht so schwierig waren, wie es vorher befürchtet worden war. Glück gehabt.
So ging es Herrn Nipp übrigens noch immer. Nicht dass er noch Prüfungen selber machen musste, das war längst vorbei. Aber jedes Mal, wenn er Leute auf Prüfungen vorbereitet hatte, jedes Mal, wenn diese jungen oder eben nicht mehr so jungen Menschen dann in den Raum gingen, um ihre Themen in Empfang zu nehmen, dann fühlte es sich so an, als würde er selbst geprüft. Was ja auch, bedachte man das vorhergehende und folgende Prozedere, gar nicht so ganz falsch war. Auch an diesem Tag hatte er nicht ordentlich gefrühstückt, auch an diesem Tag hatte er an seinem nervösen Magen gelitten. Was ist schlimmer, wenn man selber versagt, oder wenn diejenigen ungebremst vor die Wand rasen, die man vorbereitet hatte?
Diese elf Menschen hier vor ihm sind offenbar entspannter als er selbst, sie nehmen die Blätter auf, lesen in aller Ruhe und beginnen anzustreichen, zu markieren, sich Notizen zu machen. Nein, es wird keine Probleme geben. Zuweilen huscht jetzt sogar ein leichtes Lächeln über das ein oder andere Gesicht. Diese jungen Leute sind besser vorbereitet, als er selber es wahrscheinlich in seinem Leben je war. Und mal ganz ehrlich, so schwierig ist die Prüfung dann auch doch nicht.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019
Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421