Es hat wahrscheinlich keine Jugendbewegung gegeben, die ihre Leidensarroganz besser zu Schau gestellt hat
„Literatur und Subkultur – nur ein Zeitgefühl?“ Der Social Beat ist eine Grenzgänger-Literatur: die Grenzen zwischen Ich-Erzähler und Autor, zwischen Fiktion und Realität verschwimmt, man kann sie als ‚Bekenntnis‘-Literatur bezeichnen. Wie jede Jugendbewegung seit den Wandervögeln im 19. Jahrhundert sind diese Typen (zumeist junge weiße Männer) auf der Sinnsuche eines modernen „Geworfenen“. Betrachtet man die Geschichte der Jugendbewegungen, so folgten den Riots in den englischen Vorstädten, in Hamburg bei Rock-’n‘-Roll-Konzerten von Bill Haley, die „Schwabinger Krawalle“ Anfang der sogenannten Sixties, vor Paris oder anderswo, Tumulte im Zürich der achtziger Jahre – Empörung nicht nach dem Schema Rassismus/Ausgrenzung/Diskriminierung, sondern mit der Lust am eigenen Irresein, an der Noch-nicht-Eingepasstheit der Erwachsenen mit der Ungewissheit an der eigenen Perspektive, dies gerade im Ländle. Diese Jungmänner erzählen gern breit von ihren Schwächen und Süchten, meist in Verbindung mit Alkohol. Wenn Frauen bekennen, geht es dagegen meist um Sex. Von daher mag man es bedauern, daß der Social Beat sowenig Autorinnen hervorgebracht hat.
Social Beat SLAM!poetry 1 wird als „Rote Bibel“ des Social Beat bezeichnet
Das kleine Rote Buch von Mao Tsetung, war in den 1960ger Jahren als Rote Bibel geläufig. Dieses Buch eines Diktators stellt ein Referenzwerk für die literarische Strömung des Social Beat dar. Das von Michael Schönauer herausgegebene Social Beat SLAM!poetry 1 versteht sich als eine szene-relevante Recherche mit Beiträgen von 74 Autoren und Autorinnen. Man kann im Ländle den Hunger nach künstlerischem Aufbegehren und Innovation ahnen. Sich schreibend mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen, hat für diese Autoren etwas Eitles. Diese Jungmänner formulieren ein Bedürfnis nach Abgrenzung, Rebellion und dem Wunsch Teil einer Bewegung sein, wie die Tocos formulierte. Zu lesen ist ein Konformismus der Resignation, eine lähmende linke Melancholie-Routine, die Autoren des Social Beat formulierten Hilflosigkeit und Tristesse. Die Anzahl der sprachlichen Mittel ist beschränkt. Fast ausschließlich die rhetorischen Figuren der Wiederholung scheinen es den Autoren, (oder sollte man besser vom Textproduzenten sprechen?), angetan zu haben und sie wiederholen sich stetig. Diese Off-Szene wagte den Bruch mit den Bräuchen ohne über die literarischen Möglichkeiten zu verfügen eine neue Tradition zu begründen.
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Social Beat SLAM!poetry 1, Killroy Media, 1995
Weiterführend → Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.