Der gefrorene Sturm

 

Heiner Müllers Bildbeschreibung erinnert mich an Hin und zurück von Paul Hindemith, worin die Tableau-Idee, viel einfacher, genutzt wird: Ein Ehestreit führt zum Sturz aus dem Fenster – in diesem Moment hält Hindemith die Zeit an und kehrt sie um, die Handlung läuft zurück, die Musik wird einfach umgedreht, der Prozess wird zurückgenommen und die Geschichte, im Doppelsinn, verhindert.

Bei Heiner Müller wird Richtungslosigkeit und unendliche Potentialität von Geschichte und individueller Phantasie miteinander verschränkt, hinzu kommt die totale Öffnung zur absolut offenen Autorschaft des Bildes, also der Geschichte: Gleichgültig sich ereignendes Sein ohne Sinn. Dieser unendliche Pluralismus von Seinsmöglichkeiten umgreift auch surrealistische Szenarien und deterministische Abläufe – genetische Musterhandlungen -, und nur dieses Auswählen verrät den Autor: „ICH der gefrorene Sturm“ – das muss das rätselhafte Gesetz der Evolution sein: Gegenkraft der Erosion oder des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik.

Ich habe den Verdacht, dass literarische und naturwissenschaftliche Evolution äquivalent sind, nur in verschiedenen Sprachen. Ich ahne, dass Erkenntnis und Erschaffung dasselbe ist. Heiner Müllers Dichtung ist, so gesehen, Naturwissenschaft, und Naturwissenschaft ist Fiktion, Erfindung, die Poesie der Materie.

[An Holger Benkel 7.1.1997]

 

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.