WEIGONI: Literatur auf CD-ROM ist zwar noch nicht ökonomisch, dafür aber ökologisch sinnvoll. Mit »Pcetera Nr. 7« ediertest du 1996 die erste Literaturzeitschrift auf CD-ROM. Darauf findet sich ein interaktives Abenteuer zwischen Bildern, Tönen und Texten, zum Sehen, Hören und Lesen. Literatur auf dem Weg zu neuen Lesern oder vor der virtuellen Auflösung. Besteht nicht die Gefahr, dass die Sinnlichkeit des Lesens stirbt?
Karlheinz BARWASSER: Mir scheint Literatur auf dem PC nicht künstlicher zu sein als in jedem Buch. Wobei ich im Zusammenhang mit dem Reizwort Computer den Begriff virtuell nicht mag, denn virtual reality ist ja die Basis der Literatur, das gibt es ja schon immer, solange geschrieben wird, und ist keine Erfindung der neuen Medien. Ökonomisch ist die Produktion einer CD heute nicht teurer als die eines gut ausgestatteten Buches; einzig die Programmierarbeit geht in die Knochen, bei Pcetera ein gutes halbes Jahr. Mit der Sinnlichkeit, das ist eine gute Frage. Ich denke, ganz subjektiv, dass die nicht stirbt, sondern eine etwas andere wird. Die Sinnlichkeit, die der Film vermittelt, ist nicht mit der zu vergleichen, die das schwarzgedruckte Wort auf dem weissen Blatt Papier herüberbringt. Sinnlichkeit ist zudem eine sehr subjektive Erfahrung. Ganz sicher ist aber eine Sinnlichkeit da, warum würden sonst so viele vor dem PC hocken? Und wenn der PC schon als Rache der Analphabeten gilt, dann ist es doch nur gerechtfertigt, dieser kleinen Teufelsmaschine das ABC beizubringen.
WEIGONI: Wie kann man sich die editorische Arbeit an Pcetera vorstellen?
BARWASSER: Erst kommt die Auswahl der Texte, dann wird ein Konzept der Umsetzung entwickelt. Die Programmierung ist dann, vom Zeitaufwand her, die Hauptarbeit. Da wird ja nicht nur ein Text abgeschrieben, sondern so in eine Programmiersprache übertragen oder in ein Programm eingebunden, dass er später bestimmten Anwenderbefehlen folgt. Konkret: wenn im Inhaltsverzeichnis der ausgewählte Text angeklickt wird, muss genau dieser Text auf dem Bildschirm erscheinen. Hinzu kommen verschiedene Untermenüs, die alle auf irgendwelche Befehle warten und vom Konsumenten beliebig getätigt werden können. Bei Hörspielen kann das ganze Stück oder eben Seite für Seite nach dem Script abgehört werden, zu Texten kann eine Lesung durch Autorin oder Autor aktiviert werden, man kann sich durch Bild- oder Fotogalerien bewegen und und und. Das Brennen und die Massenfertigung der Silberscheibe ist dann wieder Sache der Industrie.
WEIGONI: Wir kreuzen ja momentan zwei Kulturtechniken, zum einen die Arbeit an den „Geistmaschinen“ und zum anderen die altmodische Technik des Briefeschreibens und der „langsamen Verfertigung der Gedanken beim Reden“… per E-Mail oder via Internet wären wir zwar schneller, aber sehr wahrscheinlich auch ungenauer… oder teilst du die Heilserwartungen an die sogenannten neuen Medien, bezogen auf eine neue Literatur?
BARWASSER: Grundsätzlich, wer seine Briefe via Internet „schnell“, „flüchtig“ verfertigt, der tut das auch in einem herkömmlichen Postbrief; E-Mail ist ja nur in der Übertragung schneller, zwingt mich nicht, nun „schnellere“ Gedanken zu verfertigen. Und was sind meine Heilserwartungen? Das klingt mir zu messianisch. Ich für mich erwarte ja keine „neue“ Literatur über und durch neue Medien, ich finde es nur spannend, dass sich da ein neuer Weg der Übermittlung, der Vermittlung auftut. Ich denke auch nicht, dass jetzt das gute alte Buch verdrängt wird, wieso auch? Literatur per PC ist, wie ich sagte, nur eine der Varianten. Das kann auch nur auf einem seriösen Weg geschehen. Noch tasten wir uns ja vor, was in welcher Weise machbar ist. Die Interaktivität gibt uns dabei Möglichkeiten in die Hand, die über den blossen Abdruck des Wortes hinausgehen. Da sind dann auch der Autor und die Autorin gefordert, die ihre Literatur entsprechend der neuen Technologie mitentwickeln können, vorausgesetzt, das Interesse ist da. Aber das muss behutsam gehen, ich weiss als Autor selbst, wie schnell unter uns eine Art Verstörung entstehen kann. Doch noch mal: das Buch muss einfach weiterhin zu unserer Kulturlandschaft gehören. Electronic Publishing darf sich nicht als Konkurrenz aufspielen, es sollte eine friedliche Koexistenz herkömmlicher als auch neuer Techniken doch möglich sein.
WEIGONI: Jede Idee verlangt ihr eigenes Medium. Da die Malerei nicht von der Photographie abgelöst worden ist, besteht auch für die Literatur Hoffnung. Von dir ist mit »Mutterkorn« gerade im A 1 Verlag ein Roman erschienen. Welchen Einfluss hat das Schreiben mit dem Computer auf längere Prosatexte wie diesen?
BARWASSER: Einfluss auf den Inhalt: keinen. Der Computer ist für mich in diesem Falle eine bessere Schreibmaschine mit sämtlichen Schikanen. Der PC erspart mir das Redigieren im fertig gedruckten Text, es geschieht alles am Bildschirm. Erst wenn der Text so steht, wie ich ihn auch haben möchte, kann ich ihn ausdrucken. Später kann ich ihn beliebig speichern, duplizieren, das spart Papier. Aber das soll jeder nach seinem Gusto praktizieren. Ich kenne viele, die sind nicht von ihrer alten Klapper-Olympia wegzubewegen, und das ist auch gut so. Es gibt ja mehr Liebesgeschichten zwischen Autor und Schreibmaschine, als man zu ahnen wagt. Und dass es Spass macht, ein bibliophil aufgemachtes Buch in Händen zu halten, zu riechen, darüber darf es keinen Disput geben: das ist die Sinnlichkeit dieses Objekts, die beim Computer so nicht da ist. Wie ich schon sagte: die Ästhetik ist bei der digitalen Umsetzung anders gelagert.
WEIGONI: Dein Roman »Mutterkorn« ist die Beschreibung einer nochmaligen Entbindung. Das verlangt eine Erklärung!
BARWASSER: Wobei „Entbindung mehr für „Ent-Bindung“ steht. Mein Protagonist trägt seine Mutter zu Grabe, durchlebt dabei noch einmal die Vergangenheit, die ganzen Verkettungen von Liebe und Hass in der Beziehungskonstellation Mutter – Sohn. Er muss versuchen, sich erneut zu ent-binden aus dem wohl über den Tod hinaus anhaltenden Spielchen von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, von Erwartung und Enttäuschung. Das gelingt natürlich nicht. Es ist im Grunde genommen ein Liebesroman, wenn auch manchmal der blanke Hass die Oberhand gewinnt, eine Mutterabnabelungs-Geschichte, aber keine Abrechnung mit einer Person, die nicht mehr zurückschlagen kann. Der letzte Satz in diesem Roman lautet denn auch: „Bloss lieben wäre illusorisch“. Das sagt alles: Liebe zeigt sich in tausend Facetten, wobei manche davon schon recht lebenseinschneidend sein können, wenn nicht gar lebenszerstörend.
WEIGONI: Vor allem deine Autorenproduktionen faszinieren. Löst sich deiner Einschätzung nach bald die Forderung nach dem Autor als Produzent ein?
BARWASSER: Das lässt sich bewerkstelligen, wenn man, wie ich, zusammen mit Robert Stauffer, das erforderliche Equipment besitzt. Manchmal kommt es mir vor, als würden die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine solche Produktionsweise gar nicht so gern sehen. Es wird, so mein Eindruck, von oben herab belächelt. Und die eigenen Produktionskosten stehen nie in Relation zu dem, was sie dir dafür auch bezahlen; das sind Brosamen im Vergleich zu dem, was sie im eigenen Haus für eine Produktion ausgeben. Wahrscheinlich hats noch immer mit der vermeintlichen Monopolstellung zu tun, auch, dass zu wenige Autoren diese Möglichkeit für sich entdeckt haben. Hier scheint es wie bei der Literatur per PC zu sein: nur Nichtwissen und Nichtinformiertsein lösen Ängste aus, Vorbehalte. Natürlich setzt das auch beim Autor ein Interesse voraus, man muss cutten, die Technik bedienen können, muss ein Gespür für Dramaturgie haben, wie man mit Sprache und Sprechern, Schauspielern umgeht, kurz: man muss eine sendefähige Produktion herstellen können. Ganz sicher ist es eine spannende Arbeit, du wirst dem zustimmen.
WEIGONI: Meine Erfahrung ist durch die Zusammenarbeit mit Popmusikern geprägt, die ja technisch immer schon mit den neusten Werkzeugen gearbeitet haben, also neuen Werkzeugen gegenüber wesentlich aufgeschlossener sind als Mitarbeiter bei den öffentliche-rechtlichen Anstalten. Momentan sieht es aber so aus, als würde eine neue Generation von Hörspielautoren diese Produktionstechniken aufbrechen können, oder teilst du da meinen Optimismus nicht?
BARWASSER: Es geht ja nicht um „neue Werkzeuge“ , zu denen ich auch die Digitalisierung zähle. Da haben sich die Sender sehr geöffnet. Ich rede vom Status des Anbieters, der Autor, Techniker, Regisseur und Produzent in Personalunion ist, d. h., man gibt ein Hörstück auf Sendeband ab, bei dem der Sender vorher nicht involviert war. Da liegen die Berührungsängste. Ohne Frage wird heute in den sendereigenen Studios mit allen Raffinessen produziert, nicht umsonst ist die Hörspielminute mit die teuerste Produktionsminute im Radio. Es geht aber um die Umsetzung der Stoffe. Ich kann bei einem Originalton-Stück vorher kein exaktes Konzept abliefern, kein Exposé erstellen. Bei einem Maler würde es keinem einfallen, vor dem Bild eine Beschreibung des Vorhabens einzufordern. Es geht also darum, Wagnisse einzugehen. Denn immer ist ein Hörspiel, wenn z. B. Originaltöne, Sounds zu Collagen verarbeitet werden, etwas, das sich erst beim Machen formt, nicht anders als bei der Musik, mosaikartig zusammengefügte Reflexionen, ein Ineinanderfliessen von Ebenen, quasi ein komponierter Teppich, wo man mit dem Hören „spielt“. Natürlich begrüsse ich es, dass konventionelle Produktionstechniken aufgebrochen werden, andererseits darf das herkömmliche, das auf dem Wort basierende Hörspiel nicht verschwinden. Ich glaube, das hat auch kein Sender vor, auch wenn der WDR sein Hörspielstudio in »Studio für akustische Kunst« umbenannt hat.
WEIGONI: Momentan wird ja vieles neu codiert. Wie erklärst du dir, dass jede neue Hörspiel-Generation erstmal das Medium Radio neu erfinden muss?
BARWASSER: Diese These glaube ich nun ganz und gar nicht! Das Medium Radio ist eng verbunden mit den Weltkriegen dieses Jahrhunderts. 1917 wurden schon an der deutschen Westfront Versuche durchgeführt, da wurde mit Rückkopplungsempfängern zuerst Musik übertragen. Und ab 1933 wurde die „Aufnahme, Übertragung und Wiedergabe hörbarer Vorgänge“ zum wichtigsten Mittel der Partei- und Regierungspropaganda in unserem Lande überhaupt. Das erste Hörspiel wurde 1922 ausgestrahlt. Ein solches seit rund 80 Jahren bestehendes Medium kann nicht mehr neu erfunden werden; das wäre ja so, als müsste ich vor dem Einsteigen in einen Pkw das Auto noch schnell erfinden. Es kann natürlich sein, dass jede neue Hörspielgeneration, die sich ja aus uns Schreibern rekrutiert, zuerst mal Schiffbruch in anderen Berufen erlitten hat; dann hat man sich vorsichtig an die Erkenntnis heranzutasten, dass es tatsächlich schon viele gute Patente und Elemente für das Medium Radio gibt. Doch, etwas ist innerhalb des Radios neu erfunden worden: das Format-Radio. Aber das könnte meinetwegen getrost wieder wegerfunden werden.
***
Weiterführend →
Um den Bücherberg nicht zu vergrössern war dieses Buch als Printing on demand erhältlich. Die digitalisierten Daten konnten abgerufen und in kleineren Stückzahlen gedruckt werden.
Dieser Band war als bibliophile Vorzugsausgabe erhältlich über den Ventil-Verlag, Mainz.
Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) haben diese Reihe in loser Folge ab 2011 fortgesetzt.
Einen Essay zu dieser Reihe finden Sie hier.