Zentralorgane des Undergrounds

Redaktionelle Rückblende in die alte BRD:

Den Neckermann der Subkultur hat man Josef „Biby“ Wintjes genannt, besser bekannt als Ulcus Molle-Info, Versender in Sachen Untergrund- und Alternativpresse, denn niemand anders hatte Zeitschriften und Bücher aus der nicht etablierten Szene in diesem Umfang gesammelt, bereitgehalten, besprochen und katalogmaäßig erfasst. Was den Umsatz anging, war das Bild immer mehr als schief. Aber das Ulcus Molle-Info ließ mehr als hundert Blumen blühen und hatte für jeden Freak etwas auf Lager: für Beat-Poeten und Cut-up Avantgardisten, für Acid Heads und kleine Hanfanbauer, für Anarchisten und Subrealisten, für Landkommunarden und Stadtindianer, für Mystiker und Spiritualisten, für Science-Fiction-Freunde und Comix-Freaks. So wurde das im November 1969 von Wintjes gegründete Nonkonformistische literarische Informationszentrum zur Drehscheibe der Szene und der Info-Dienst ,Ulcus Molle“ zum Sprachrohr für die unterschiedlichsten literarischen, politischen und subkulturellen Gruppen. Biby Wintjes ist im am 24. September 1995 gestorben.

Josef „Biby“ Wintjes hat wie kaum ein andere über Jahre hinweg die Literaturszene geprägt. Der Bottroper war ein Pionier.

Werner Streletz

Aus dem Nachlass von Josef „Biby“ Wintjes, der den Grundstock für das ,Archiv für Alternativkultur“ am Institut für Europaeische Ethnologie der Humboldt-Universität bildet, werden der Öffentlichkeit erstmals mehr als 150 experimentelle, sendungsbewusste, spinnerte, radikale, avantgardistische, aber auch durchaus dilettantische Exemplare der Untergrundpresse zugänglich gemacht, von der William S. Burroughs 1971 allen Ernstes behauptete, dass sie das einzig wirksame Gegenmittel gegen die wachsende Macht der etablierten Massenmedien bildet. Von ,Oracle“ und ,Hotcha!“ (stricly underground) bis ,Gasolin 23″ und , U.F.O“ (strictly beat), von ,Linkeck“ und ,Fizz“ (I am an anarchist) bis , Kompost“, ,Vollmond“ und ,Yamsknoll“ (Wir vom Lande), von Postillen für , Pop, Politik und Pornographie“ über Comic-Zeitschriften, Science Fiction Fanzines bis zu Punk Fanzines (und last not least, das legendäre Ulcus Molle-Info selbst, das 1990 eingestellt wurde) wird der im wahrsten Sinne des Wortes bunte Blätterwald der Szene in seiner chaotischen Vielfalt präsentiert. Die Ausstellung zeigt damit Spuren einer anderen Kulturgeschichte (der – alten – Bundesrepublik) aus dem Geiste des Protests, der manchmal durchaus geniale, manchmal bloß pubertäre Züge annahm und der wissenschaftlichen Betrachtung nicht entgehen konnte. Ein coup du monde wollte die Underground-Bewegung sein, eine Welt für sich ist sie geworden.

Szenenblätter von 1968-1980. Eine Ausstellung

Die Eröffnung von „Zentralorgane des Undergrounds-Szeneblätter von 1968-1980“ findet heute um 19 Uhr statt. Die Laudatio hält Prof. Dr. Rolf Lindner. Musikalisch begleitet wird die Vernissage von „Bars“- Fifi de L’amour + O.J. Die Ausstellung ist vom 8. Oktober bis zum 6. November 1997 in der Kleinen Humboldt-Galerie, im Hauptgebäude, Rechenzentrum der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, in 10099 Berlin, zu sehen.

 

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Biby Porträt: Bruno Runzheimer

Zentralorgane des Undergrounds – Szenenblätter von 1968-1980. Eine Ausstellung vom 8.10. bis 6.11.1997 in der Kleinen Humboldt-Galerie

Wissenschaftliches- und literarisches Begleitprogramm zur Ausstellung:

Wissenschaftliche Vortragsreihe: 28. Oktober: Prof. Dr. Helmut Hartwig: „Ästhetik der Alternativkultur“ 4. November: Prof. Dr. Walter Hollstein: „Alternativbewegung – Bedeutung in der Vergangenheit; Bedeutung für die Gegenwart?“ Ort: Institut für Europäische Ethnologie, Schiffbauerdamm 19, 10117 Berlin, jeweils dienstags um 18.00 Uhr

Lesung: 29. Oktober: Jürgen Ploog: „Schreiben ist eine grundsaetzliche Demonstration“, Katastrophenberichte eines semantischen Raumfahrers. Literaturprogramm-Wolkenbuegel im Theater unter dem Dach, Danziger Strasse 101, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg, Mittwoch, 20.00 Uhr

Begleitheft: Die ,Berliner Blätter“ – Ethnographische und Ethnologische Beitraege, Heft 15 Oktober 1997, Hrsg.: Gesellschaft fuer Ethnographie (GfE)/Institut für Europaeische Ethnologie der Humboldt-Universität können während der Ausstellung erworben werden.

 

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.