Seiner Suche nach den tiefen und trotzdem leichten, musikalischen und metaphorisch überzeugenden Versen kann man theoretisch leicht zustimmen, aber wie sieht es aus in den Wüsten, Wäldern, Meeren und Dschungeln der real existierenden Lyrikwelt? Was würde er sagen zu den Gedichten von Jan Wagner (Regentonnenvariationen), zu dessen absichtlich ‚unreinen‘ Reimen, also zu der so erreichten Reimerweiterung? Wieviel Künstlichkeit und Ludik sind genehm? Fragen über Fragen. Am Ende landen wir wohl immer bei den Gedichten, die uns ad hoc gefallen oder die unseren individuellen Kriterien entsprechen. Oder wir merken, wie abhängig wir selbst sind von den großen Gedichten der Vergangenheit, etwa gereimte Benn-Gedichte, Prometheus von Goethe, Schillers Handschuh, Ingeborg Bachmanns härtere Tage, und vielleicht auch von Morgensterns oder Jandls skurril-tiefsinnigen Versen … Und ich merke, wo ich das jetzt schreibe, wie groß die Vielfalt, die Unterschiedlichkeit der Gedichte ist, die ich schon vor Jahrzehnten gut fand, und der Gedichte, die ich in den letzten Jahren las – und frage mich: es würde mir schon schwerfallen, dafür Kriterien zu finden; und um wieviel schwerer wäre es, Kriterien zu finden, die überindividuell gelten könnten. Denn es ist doch so: dass uns manchmal ein Gedicht gefällt, obwohl oder weil es vollkommen sinnlos erscheint, absolut verspielt ist oder meine Gefühle genau trifft … und ich merke auch: das Gedicht gefällt mir nur in einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Stimmung. Und ich weiß: Ich könnte auch Gedichte niederkritisieren, wenn ich meinen Kriterienmaßstab nur hoch genug spanne – und ich weiß außerdem: ein Gedicht, dass meine höchsten Kriterien erfüllt, kann mich auch langweilen, je nach dem, in welcher Zeit, in welcher Lebenssituation es mir begegnet. NUR ZWEI DINGE von Benn liebe ich, und ich kann es auch vernichten, und ich kann an meine Gedichtvernichtung heute glauben und mich morgen darüber wundern. Zurück zu Raoul Schrott: Er attackiert die modischen Gedichte, da wo sich zeitbedingte Strukturen, Bilder, sprachliche Phänomene wiederholen oder ähnliche Gedanken wiederkehren, wo sich vielleicht auch Künstlichkeiten, ludische Manierismen oder geistige Kälte zeigen – doch auch hier kann es sein, dass solche Gedichte Jahre später anfangen zu leuchten. Der Kanon der gelungenen oder wenigstens in irgendeiner Weise bedeutenden Gedichte bildet sich im Lauf der Zeit trotzdem heraus durch Leser, verkaufte Bücher, Jurys und Preise, kulturelle Veranstaltungen, Schule, Wissenschaft und Forschung – ich bin nicht dagegen, anders geht es ja auch kaum. Aber kein Leser muss daran glauben und dem Kanon folgen. Und so geschieht es auch – und das ist tröstlich.
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Pamphlet wider die modische Dichtung, von Raoul Schrott, in: Fragmente einer Sprache der Dichtung. Innsbruck 1997
Weiterführend → Die Redaktion blieb seit 1989 stets in Äquidistanz.
→ 1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie