Theo Breuer der beinahe täglich neue Lyrikbände kauft und liest, macht in seinem Buch hungrig auf Gedichte. Er füttert den Leser mit Appetithäppchen von zahlreichen Autoren, weckt Kreativität, indem er verschiedene Möglichkeiten des Dichtens zeigt, und schreibt dabei so locker und selbstverständlich, dass ein Vergleich mit Robert Walser sich unbedingt aufdrängt.
Titus Müller
HEUTE IST DER 22. Dezember 1997. Soeben habe ich eine Reihe der Lyrikbände aus dem Regal genommen, die ich exemplarisch für die schönen Gedichtbücher, die ich in dieser wieder etwas wilder gewordenen Zeit gelesen habe, auf den folgenden Seiten vorstellen werde. [UNTER SCHÖN VESTEHE ICH in diesem lyrischen Zusammenhang das Gedicht, das mich interessiert, fesselt und gleichzeitig am Erhabenen (das oft genug auch verdreckt in der Gosse zu finden ist) teilnehmen läßt. Wir befinden uns hier in extrem subjektiven Gewässern, und erst gestern habe ich mich beim Lesen der Gedichte von Karl Krolow gefragt, was denn nun für mich das Außergewöhnliche, das Besondere, das Charismatische an diesen Gedichten sei, denn die Empfindung, hier immer wieder dem geglückten Gedicht zu begegnen (oder, wie ein anderer es ausdrückt, dem südlichen Wort) war ganz stark in mir, und ich befragte mich wiederholt, ob ich mir diese Empfindung nicht etwa einredete, weil der Name Krolow mich womöglich von vornherein mit positiven Vorurteilen belud, und ich las weiter und weiter und fand nicht die Wörter für eine Antwort auf meine Frage. Aber – das Gefühl blieb. Nachdem ich heute einen in meinen Augen schlechten, (langweiligen, gekünstelten, lyrisches Empfinden heuchelnden) Gedichtband gelesen habe, weiß ich die Antwort, und ich weiß vor allem, daß ich mich bei Krolow nicht getäuscht habe.]
Halt – nicht nur im soeben näher beschriebenen Sinne schöne Gedichtbände stelle ich Ihnen vor, nein, es geht mir durchaus auch darum, wenigstens einige wenige neue Editionsideen und in den 90er Jahren gegründete lyrische Reihen vorzustellen – unabhängig von meiner subjektiven Einschätzung der Qualität. Daß ich damit das weite Feld dieser Neuheiten nur im entferntesten Ansatz andeute, muß von vornherein deutlich gemacht werden, geradeso wie die Tatsache, daß unter dem Thema Lyrik in den 90er Jahren ein dickes Buch mit vielen, vielen Seiten geschrieben werden müßte, was ja möglicherweise nach der Jahrtausendwende geschehen wird, warten wir’s ab.
Die Klänge von Schuberts 1. Sinfonie versetzen mich in diesem Augenblick besonders intensiv in eine meiner liebsten Stimmungen, die ich – bewußt herkömmlich-traditionell – die poetische nennen möchte. Bereits vor einer halben Stunde war ich soweit, ein Zeichenprogramm in meinem Computer zu öffnen, um mit der Maus ein Bild mit dem Wort Poesie zu malen. Statt dessen beginne ich nun mit der Niederschrift dieser Aufsätze zur Lyrik der 90er Jahre, die ich mir seit einigen Wochen zu schreiben vorgenommen und für die ich – neben der Lektüre der Gedichtbände als natürlichem Auslöser meiner Schreibtätigkeit – seit einiger Zeit vorbereitende Gedankenarbeit geleistet habe, die nun das Schreiben möglich macht. [ICH HABE BEREITS verschiedentlich meine Skepsis an der Aussagekraft bzw. Bedeutung des Begriffs JAHRZEHNT geäußert. So scheint mir eine Anthologie wie die erste nach dem Kriege in Deutschland publizierte Gedichtsammlung De Profundis (1946 von Gunter Groll herausgegeben), die ausschließlich Gedichte enthält, die zwischen 1933 und 1945 von Dichtern der inneren Emigration geschrieben wurden, unter Umständen mehr Sinn zu machen als eine Jahrzehnt-Anthologie: Die Trennungslinie bei letzterer ist natürlich künstlich, die Übergänge sind schließlich fließend, aber was hilft es: Verstanden als heuristischer Begriff findet Jahrzehnt auch in meinen Ausführungen immer wieder Verwendung. Der Leser mag selber entscheiden, inwieweit man von Gedichten der 60er, 70er, 80er oder 90er Jahre im Hinblick auf klare Abgrenzungen bezüglich der Formen, Inhalte und Stile sprechen kann: Ich tue es jedenfalls auch – bei aller Vorsicht…] Die Stimmung, auf die ich gewartet habe, ist nun da, denn: Ein gutes Gedicht ist das eindringendste Mittel der Belebung des Gemüts [ICH GEBE GERN ZU, daß es mich stets erfreut, wenn ich, wie hier bei Immanuel Kant, Gedanken bei großen Geistern finde, die ich so oder so ähnlich ebenfalls denke. Dies zu dokumentieren ist wohl Sinn der Mehrzahl der Fußnoten.]: Wie oft habe ich, beispielsweise, Paul Celans Todesfuge (z.B. auch in Luftfracht abgedruckt) gelesen, und jedesmal bin ich noch mehr elektrisiert von diesem Gedicht.
Ich habe mich beim Gestalten der Druckvorlage für den Schrifttyp Lucida Casual entschieden, der unter den vielen, vielen Schriften, die mir die Auswahl zur Qual machen, u.a. die bereits angedeutete Stimmung, die quasi die Grundierung meines Textes darstellt, typographisch dokumentieren mag. Wenn ich mir schon den Begriff Grundierung aus der Welt der bildenden Kunst entleihe, möchte ich in diesem Zusammenhang unbedingt auf eine weitere Facette dieses Begriffs im Hinblick auf (sicherlich nicht nur) meine Schreibexistenz an sich hinweisen:
Ich bin von Beginn meiner Schreibtätigkeit an der Schriftstellertyp gewesen, der über das Lesen von Literatur zum Schreiben von Literatur gekommen ist. An einem Herbsttag des Jahres 1983 brach sich diese Entwicklung endgültig Bahn. Diese Beziehung besteht bis heute, allerdings mit dem Unterschied, daß sie noch viel intensiver geworden ist als in den Anfängen: Im Ezra Pound Lesebuch habe ich von der (offenbar zwingend notwendigen) Zitierwut Pounds gelesen, die im Laufe der Zeit immer heftiger geworden ist. Ich nehme an, daß es bei mir die gleiche Disposition ist, die die Werke der Dichter in meine Gedichte mit einfließen läßt. Ich hoffe, sie alle freuen sich darüber; jedenfalls möchte ich betonen, daß mein gesamtes dichterisches Schaffen im Grunde genommen eine einzige Hommage an die Dichtkunst oder – allgemeiner gesagt – an die Kunst, Musik und Literatur aller Zeiten ist, der bzw. denen ich so viele glückliche Momente meiner Existenz zu verdanken habe. Es versteht sich von selbst, daß dies nicht die alleinige Funktion meiner Gedichte ist. [Es ist natürlich ein feines Gefühl, beim Lesen zahlreicher Gedichtbände der 90er Jahre immer wieder auf ähnliche Schreibdispositionen zu stoßen. Offen oder versteckt montieren die Dichter die Verse geschätzter Dichter in ihre Gedichte hinein, um ihr lyrisches Ich in differenzierter und differenzierender, in objektivierter und objektivierender Sichtweise lyrische Welt sichtbar machen zu lassen, eine Verfahrensweise, die Benn vorausgesehen hat und die wohl eine der wenigen echten postpostmodernen Stilelemente zu sein scheint – natürlich ohne den Anspruch, dies erfunden zu haben: Mein Gott, nein, wenn ich in Ben Jonsons Gedichten beispielsweise lese, springen mir die Catull, Horaz, Philostratus nur so in die Augen. Aber ich glaube, daß der Lyriker der 90er Jahre – im Gegensatz zum romantischen Dichter – ein Geschichtsverständnis pflegt, das dem eines Ben Jonson (1572–1637) sehr nahe kommt: History, as Jonson perceives it, is not a changing and evolving process, producing an infinite series of unique moments. Instead, it is a repetitive and in part predictable affair, whose individual moments may be seen to resemble other moments that have occurred in the past or may occur in the future. To echo the poets of the past is not therefore a servile or insignificant act; it is rather a salute to authority, a telling (and in turn authoritative) location of the present relevance and application of what they, in their age, have observed and written. Oscar Wilde’s comment on Ben Jonson was apt: „He made the poets of Greece and Rome terribly modern“. (Ian Donaldson in: Ben Jonson. Selected Poems, 1995). Gleiches tun wir mit den großen Dichtern der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte, auffällig häufig in den 90er Jahren mit Hölderlin, worüber noch eine Rede zu reden sein wird.]
Anmerkungen und Fußnoten zu einigen Dutzend Büchern, bewußt und vornehmlich Erzeugnissen aus kleineren Verlagen, die eher selten in der Öffentlichkeit besprochen werden, stelle ich meinem längeren Kerntext Eine lyrische Marginalie oder Ein Echo von allem zur Seite, in dem ich mich dem Phänomen der Lyrik der 90er Jahre ein wenig zu nähern versuche und gleichzeitig einen Lyrikband vorstelle, der vielleicht zu den gelungensten lyrischen Büchern gehört, die ich in dieser Zeit gelesen habe. Das Lesen von Lyrik nimmt seit ein paar Jahren einen anderen Stellenwert in meinem sehr vom Lesen bestimmten Leben ein, das allerdings (Don’t worry, Karl Kraus & Rolf Dieter Brinkmann!) auch außerhalb meiner 4 Wände gelebt wird: Waren es über viele Jahre hin die Romane, so sind es nunmehr Gedichtbände geworden, die ich am liebsten und am meisten lese und in denen ich u.a. nach den Antworten auf meine Fragen [IN DAGMAR LEUPOLDS Kurzprosa- und Gedichtband Destillate – apart poetisch und pointenreich verfaßt – auf Seite 42 gefunden: Fragen an den Dichter // Ohne Not erfinden? / Zur Not erfinden? / Die Not erfinden? // Notabene. / Notamale.] forsche, die ich mich stets gefürchtet habe, offen zu stellen.
Es wurde aber auch höchste Zeit, denn wenn ich darüber nachdenke, was ich an lyrischen Klassikern noch nicht kenne, werde ich ganz unruhig, vor allem vor dem Hintergrund, daß nie zuvor soviel Lyrik veröffentlicht wurde wie heute. Wenn die Zeitschrift Das Gedicht von etwa 600 recherchierten deutschsprachigen Lyrikbänden im vergangenen Jahr spricht, so kann es sich dabei ja nur um einen relativ kleinen Teil der tatsächlich erschienenen Lyriktitel handeln: Es gibt im deutschen Sprachraum einige hundert Kleinverlage und Minipressen, die im Schnitt wohl um die 5 bis 15 (in erster Linie lyrische) Bücher jährlich verlegen, ganz zu schweigen von den Publikationen der ,großen‘ Verlage, die auch wieder deutlich mehr geworden sind im Bereich der Lyrik: Selbst bei vorsichtiger Schätzung kommen da ein paar tausend heraus – deren Qualität einmal dahingestellt sei. [WIE ICH DEN ,Qualitäts-‘-Begriff in diesem Zusammenhang hasse. Sind wir denn in einer Fabrik, in der ich der Abteilung Qualitätskontrolle zugewiesen bin? Nein, nein, nein, immer wieder bin ich ratlos nach der Lektüre von Gedichten, die nicht das Kriterium der schwierigen Schönheit – gemeint ist eine spannungsreiche Organisation des Gedichts, eine beherrschte Kontrapunktik zwischen semantischen und ästhetischen Werten, Neuartigkeit, Multivalenz, Vielfalt der gedanklichen Assoziationen und der von der Sprache getragenen Rhythmus- und Klangstrukturen (Bernd Thum) erfüllen, lege sie beiseite, lese sie wieder. Und wenn nach dem Lesen eines Gedichtbandes auch nur eine Zeile hängenbleibt, ein Bild, gar ein ganzes Gedicht, die Tonart der Texte, so spricht das bereits für den Dichter und seinen Stil, und wenn nichts beim Lesen, auch beim wiederholten, sich rührt – nun, dann können wir es wohl nicht miteinander, und ich muß mich nicht länger mit der Frage befassen, wie schlecht dieses Buch ist, das interessiert mich überhaupt nicht mehr. Jedenfalls kann dieses Nichteintreten von Kommunikation zwischen Gedicht und mir ja auch ganz andere Gründe haben als das vermeintlich schlechte Gedicht. Monate oder Jahre später kann ich zu ganz anderen Leseempfindungen und -erkenntnissen kommen. Ich wundere mich über die Fachleute, die immer noch zu unterscheiden wissen zwischen dem, was schlecht ist und dem, was gut ist, obwohl seit dem Einbruch der Moderne die von Thum so glänzend formulierte und offenbar so griffige Qualitätsbestimmung als solche ja gar nicht mehr gültig sein kann. LETZTEN ENDES ist das Gedicht eine Sache zwischen zwei Personen und nicht zwischen zwei Seiten. (Frank O’Hara)]
Nicht nur – aber auch Gedichte wie das folgende (von Axel Kutsch) versetzen mich Tag für Tag in eine geradezu wütende Lesestimmung, und die Lyrik beschert mir bisweilen gleichsam rauschhafte Zustände, die mir das Bewußtsein erweitern und das Leben verlebendigen – seien die Gedichte nun – um es mit Hermann Hesses Worten auszudrücken, die ich in seinem sehr interessanten Aufsatz Über Gedichte fand – eine Entladung, ein Ruf, ein Schrei, ein Seufzer, eine Gebärde, eine Reaktion der erlebenden Seele, mit der sie sich einer Wallung, eines Erlebnisses zu erwehren oder ihrer bewußt zu werden sucht [SIEHE CHRISTIAN STRICH (Hg.), Die schönsten Gedichte von Hermann Hesse, S. 117. Hesse setzt sich in diesem Aufsatz auch mit den guten Seiten des schlechten Gedichts im Zusammenhang der Beurteilung von Lyrik auseinander.]:
VORSCHLAG
Schlagt Bücher auf
wenn Gäste
von Computern
schwärmen
und lest sie hinaus!
13 Bücher aus 10 Verlagen stellen KAPITELÜBERSCHRIFTEN dar, unter denen immer wieder mehrere Gedichtbände (und andere Bücher) zumindest kurz vorgestellt werden, die ich dem Leser ans Herz legen möchte, damit er sie erwerbe und lese, was wohl nicht nur Thomas Mann als die liebste Beschäftigung des Tages bezeichnet hat: Das Beste vom Tage: nach dem Auskleiden, im Schlafrock, bei brennender Ofenlampe, Lektüre im Stuhl. Ich bin in der glücklichen Lage, das Beste vom Tage bereits kurz nach dem Aufstehen erleben zu dürfen, da ich jeden Morgen über eine Stunde in der Bahn verbringe und mich so schon ganz früh in die Gedichte versenken kann: Was dem einen der Walkman, ist mir der Gedichtband.
Die Kenntnis des Zitats von Thomas Mann verdanke ich im übrigen Michael Kohtes, der mich an einem Abend mit dem Buch Literarische Abenteurer, in dem er 13 wilde Existenzen vorstellt, dermaßen gefesselt hat, daß ich ihm meine vergleichsweise 13 zahmen Abenteurer-Texte widmen möchte. [WELCH SCHÖNE BESCHERUNG, daß mir wenige Tage, nachdem ich dies schrieb, der Lyrikband Der Alltag des Abenteurers von STEFFEN JACOBS in die Hände gerät. Und welche Überraschung: Lesevergnügen pur mit einem Dichter, Jahrgang 1968, der gerade die Entwicklung in der Lyrik der 90er Jahre repräsentiert, die ich so liebe: In seinen Gedichten treffen sich Ich & Welt zu rasanten Rendezvous, in denen die Sprache (in freien, mit Binnenreimen durchsetzten oder liedhaften (jambischen, trochäischen) Versen und gereimten Kadenzen) dermaßen flott, verspielt, pointiert zwischen den schönen und den schmerzvollen Themen des Flickwerks Leben schwankt, daß Benn, Hölderlin, Maiwald, Rilke und ich viel zum Staunen finden: jardin Nouveau // Kein Elefant im Karussell, / kein Knabe träumt sich hoch und schnell. // Dort, wo sich, heißt es, Wesen drehten, / kreisen jetzt Mobilraketen. // Drehen durch und rasseln Ketten, / drohen, schießen, schließen Wetten: // Lauter laute kleine Landser. / Und dann und wann ein weißer Panzer.]
Schließlich sei noch der Hinweis erlaubt, daß ich mich durch eine Reihe freundlicher Zuschriften zu meinem in der literarischen Jahresschrift Muschelhaufen erschienenen Essay Mein alternatives Lyrik-ABC (den ich als Komplementär-Lektüre zu Ohne Punkt & Komma vor allem deshalb empfehle, weil ich die poetologischen Kommentare und besprochenen Einzeltitel hier natürlich nicht wiederhole) zusätzlich ermutigt fühle, in dieser mir liebgewonnenen Art der Beschäftigung mit literarisch-künstlerischen Dingen, die mir Tag für Tag begegnen, auseinanderzusetzen. Stellvertretend zitiere ich Axel Kutsch aus seinem Brief vom 28.11.97: Ich habe Dein Lyrik-ABC als eine interessante Ergänzung zu „Das Gedicht“ gelesen. Das solltest Du fortführen! Was ich hiermit denn tue – ohne Angst vor dem, was z.B. auch Peter Waterhouse oder Hugo von Hofmannstal (Die Worte zerfallen mir wie modrige Pilze im Mund) als das Problem des Lyrikers schlechthin beschrieben hat – keine Wörter zu haben.
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Weiterführend →
Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.