Vögel

Die Vögel zwitscherten ihr lustiges Lied.

Zufrieden lag er auf der Terrasse und ließ es sich gut gehen, das einzige, was ihn störte, war der permanente Regen, der auf seine beiden aufgequollenen Brustwarzen tropfte, egal wie er sich legte, schien auch der Regen seine jeweilige Position zu verändern. Daran, dass die Nachbarn ihn anschauten, hinter den wohlgefalteten Gardinen versteht sich, hatte er sich inzwischen gewöhnt, aber in der Sonne liegen, allgemein anerkannt und beliebt, war schließlich schädlich, warum musste immer alles Schädliche von dieser Bürgerfassadenwelt als Norm benutzt werden? „Scheiß was drauf, die können mich alle mal.“, dachte Nipp und begann wieder mit seinem dösenden Halbschlaf. Nur der beständig auf seine aufgequollenen Brustwarzen tropfende Regen störte ihn.

Aus dem Haus quälte sich auf dem Boden kriechend die dickflüssige Musik von Marc Almond bis an seine Liege, drohte und quengelte und beschrieb Jacques Brels Todes- und Lebensangstvisionen. Herrlich verquer um so eingelullt zu werden. Ein schriller Ton weckte Nipp aus seinen unangenehm-schönen Träumen. Nebenan im Vogelnetz des rechten Nachbarn hatte wieder einmal ein Vogel seinen Meister in den fast durchsichtigen Seidenfäden gefunden. Kaum war der erste Ton verklungen, stürzte der schwarzfettighaarige Nachbar auf die nassen Pflastersteine, ein gemeines Grinsen im Gesicht, ging gemessenen Schrittes, nachdem er fast ausgerutscht war, sich aber wieder hatte fangen können, auf die fiese Falle zu, löste vorsichtig den Vogel, nahm behutsam, gleichsam wie beruhigend, den kleinen Pieper in seine großen Hände, flüsterte ihm etwas zu, um der Amsel im nächsten Moment den Kopf umzudrehen. Das war der dritte innerhalb einer halben Stunde, noch fünf und die Pfanne würde voll sein und bald herrlich herüberduften. Der Nachbar hatte seine Freude am Einmalinderwochesingvögelfangen. Seine Eltern waren vor knapp vierzig Jahren aus Sizilien eingewandert, die Leidenschaft des Vogelessens aber hatten sie nie so richtig abgelegt, der Nachbar hatte diese Tradition geerbt, baute sie ständig aus, kultivierte sie und gab der Sache einen Touch von Feierlichkeit. Nun also machte er sich jeden Sonntag eine Pfanne mit frischen Singvögeln. Auch eine Taube hatte er schon mal erwischt, aber das kam leider viel zu selten vor. Auch Nipp hatte er mal zum Singvogelessen eingeladen, aber der hatte mit irgendwelchen Ausreden abgelehnt. Er hörte die Vögel einfach lieber singen, obwohl es sonntags doch zugegebenermaßen immer sehr gut aus Nachbars Küche duftete, aber nein, das war einfach zu viel.

Nipp begann zu rechnen, „Wenn nun jede Woche fünf bis neun Vögel verzehrt werden, sagen wir einmal so durchschnittlich sieben, sind das im Jahr,    im Jahr    , im Jahr    das Jahr hat so ungefähr fünfzig, nein bei 365 Tagen, hm, zweiundfünfzig Wochen“, ja, im Rechnen war er schon in der Schule sehr gut gewesen, um nicht zu sagen der Beste, aber das war schließlich schon lange her und so wie andere sehr gut ein O schreiben konnten oder gar eine 0, konnte er immer noch ganz gut rechnen, andere neideten ihm das schon damals und das war wohl auch gut so, sonst hätte er noch Freunde gehabt, und die konnte er zur damaligen Zeit wirklich nicht gebrauchen, die hätten nur seine kostbare Lesezeit in Anspruch genommen, hätten Löcher in seine Welt der Träume und teilweise widerlichen Phantasien gerissen, und das hätte ihm nun wirklich überhaupt nicht in den Kram gepasst. „Dann wären das ja im Jahr fast genauso viele Vögel wie Tage, nein, das kann nun wirklich nicht so weitergehen. 364 Vögel, kein Wunder, dass im Winter nur noch knappe zehn Vögel am Futtertrog saßen.“ Was war zu tun, die schon mal letzte Woche angerufene Polizei hatte sich nicht großartig an der Sache interessiert gezeigt und ihn mit Worten wie „nicht zuständig“ und ähnlichem Schmu abgefertigt. Die städtische Greenpeace-Gruppe hatte ebenfalls kein Interesse gezeigt, sie musste gerade eine publicity-trächtige Aktion vorbereiten, das Amt für Umweltschutz war letzte Woche vom Stadtrat geschlossen worden, man musste schließlich sparen. Der Vogelschutzbund stellte sich als Briefkastenfirma heraus, die nur auf Spenden wartete und die Zeitung wartete, auf die publicity-trächtige Aktion von Greenpeace und wollte dem zu erwartenden Artikel nicht schon im Vorfeld das Wasser abgraben. Was also war zu tun. Die meisten anderen Nachbarn redeten eh nur das Nötigste mit dem Kauz Nipp, und Selbsthilfegruppen kamen heutzutage nur noch für schwule Bauernsöhne und sexbesessene Hausfrauen infrage. Nipp lag also auf seiner Liege im Regen und ständig tropften diese lästigen Regentropfen auf seine aufgeschwollenen, um nicht zu sagen gequollenen Brustwarzen, das konnte wirklich dermaßen nervig sein. Er versuchte also wieder nachzudenken, aber das gestaltete sich aus den gegebenen Umständen als wirklich problematisch. Kurz entschlossen stand er zwei Stunden später auf und legte sich ins Bett. „Nichts für ungut, aber heute ist wohl nicht der richtige Tag zum Nachdenken.“

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

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