DER KÜNSTLER

 

ich kauere in der verborgenen ecke eines treppenhauses unter einer schrägen wand, die mit schimmelpilzen bewachsen ist. plötzlich bespringt mich von hinten eine käferförmige gestalt, krallt ihre hornigen und behaarten hände an meinem rücken fest und wirft ihren körper wie zur folter ekstatisch hin und her und nach vorn und zurück. ich drehe mich, indem ich mir schmerzhaft die hüfte verbiege, langsam um und erkenne im dämmern, das wesen trägt anstelle des kopfes eine rußgeschwärzte maske über einem leib aus durchsichtiger weißer haut, worin ich wie hinter glas das blut strömen und die organe pulsieren sehen kann.

ich reiße mich los, versetze der gestalt einen schlag, daß sie rücklings umfällt, und fliehe ins freie. und stehe jäh im wechselspiel aus sonnendurchflutetem und dann wieder halbdunklem licht inmitten einer zerklüfteten landschaft, die ich mit großen schritten durchquere, derweil ich in der ferne helle glocken schlagen höre. ich gelange zu einem waldstück und bahne mir unter gelben schatten einen weg durchs gesträuch, bis ich eine lichtung erreiche. da entdecke ich auf meiner haut dutzende teilweise bereits aufgeplatzter und schorfverkrusteter eiterblasen und springe ohne jedes überlegen in ein spiralförmig stiebendes feuer, das vor mir aus dem erdboden auflodert.

ich entleere mich in den flammen vom eiter und erblicke dabei über mir gleich einer luftspiegelung meine haut, die silbern leuchtet. unmittelbar darauf stürze ich vom feuer geschwächt zu boden und weiß aber genau, daß ich meinen tod nur spiele oder träume. noch im umfallen sage ich mir, hier hat die zeit sowieso keine chance. und stehe sofort wie von selbst wieder auf. hinterm feuer, das erloschen war, nachdem es mich gereinigt hatte, öffnet sich mir ein moor, das ich betrete, beklommen, es könnte mich verschlingen. und während ich jeden schritt vorsichtig setze, kommt mir eine gestalt mit schwanenkopf und satansgewand entgegen, die ein sternförmiges mal auf ihrer nackten brust trägt. »das ist ja der künstler.«, rufe ich. und umarme das wesen, dessen klebrige haut sich anfühlt wie feuchter lehm.

 

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traumnotat aus reise im flug, von Holger Benkel, Verlag blaue Äpfel, Magdeburg 1995

Weiterführend

 

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.