Ragout à la Bărăgan

Für Horst Samson

Schweine gezüchtet in Nischen den Grauzonen
der Planwirtschaft
waren seit geraumer Zeit besonders gefragt
vor den Feiertagen vermehrten sich auf wundersame
Weise
die Brat- und Leberwürste in den Kellergeschossen
des Kombinats für industrielle Fleischverarbeitung
verschwanden
fast ausnahmslos in den Speisekammern der Armen
vor Ort
oder jener die zufällig in der Gegend zu tun hatten
oder gezielt ihre Einkäufe hier machten
(nirgendwo in Zentral- oder Südosteuropa gab es einen solchen
geometrischen Ort an dem man sein Zelt
hätte aufschlagen können
um sich seiner mehr oder weniger voraussehbaren
Herkunft
zu rühmen
bei so viel frischem Fleisch Schuhen mit Ledersohlen amerikanischen Zigaretten
ein echter Schwarzmarkt wie zu Zeiten des Krieges
behaupteten
die Alten – wer hätte ihnen widersprechen können?)
es traf sich dass wir mit Fotos richtig Geld gemacht
hatten
nun (endlich?) in den Augen der Leute wer waren (und
selbst?) uns ein Schwein (na und?) kaufen
und dem Ritual
seiner letzten irdischen Dienstleistung beiwohnen
konnten
anstelle eines anderen war der Züchter der Metzger
was wir nicht wissen konnten gleichzeitig der Deportierte deshalb unsere
Verlegenheit
(die Brennnessel mehr als zwei Meter hoch verbiss
sich in den ungehobelten Dielen)
„und lege dich nicht mit den Leuten an sie sind
anständig
die Nachbarin hat sie geschickt“ so in etwa begrüßte
uns sein Weib
lauthals um ihn zu ermahnen
„gut dass sie uns keine Krankheit auf den Hals
geschickt hat“ „guten Tag“ „einen guten – ha? Kommunist der Herr? gut zu wissen
wenn ich das Schwein schlachten soll oder Securist? vielleicht Pope?
Gott möge mir verzeihen“ so das gesunde Lachen
eines Mannes
der sein Lebtag mit einem anderen verwechselt
worden war
„ihr müsst sein Krakeelen verstehen denn neulich
tauchte da einer auf
übernachtetet in der Schulbibliothek hörte sich im
Dorf um
und nach einer Woche hatten wir die Gendarmen am
Hals“
„wenn du mir mit Lügerei kommst schlachte ich dir
das Schwein nicht
mich haben schon ganz andere zu hintergehen
versucht“
es traf sich, dass das Schwein ein sehr starkes Herz
hatte
es röchelte gut zehn Minuten man konnte meinen
es wolle sein Blut aus der übervollen Schüssel
mit dem abgeplatzten Email saufen
„Mitternacht war vorbei mehr als ein Bündel durften
wir nicht
mitnehmen schreit nicht herum ihr weckt sonst die
Nachbarn
selber schuld wenn ihr nicht leben wolltet wie sie
wir erschießen euch wie …“
„bist du Kommunist?“ dem Schwein war plötzlich die Lust
auf Blut vergangen es streckte dreimal die Beine von
sich
wie um sie sich zu vertreten und gab seinen Geist auf
„wenn es ein Irrtum war wird es sich erweisen
wir wollen nur Gerechtigkeit
Gleichheit
Brüderlichkeit“
„bist du Securist?“
die Borsten des Schweins waren abgesengt das Stroh
abgebrannt
die Hunde der Nachbarn begannen verrückt zu
spielen
„noch am selben Morgen hat er sich in unserem Haus
breit
gemacht in unseren Möbel unserem Bettzeug
nach einer Woche gab es kein Huhn mehr im Hof
keinen Tropfen Schnaps oder Wein mehr im Keller
sein Ruf als Wohltäter hatte sich rasch
herumgesprochen“
„bist du vielleicht doch Pope?“ der Anblick des
Schweins
war unerträglich geworden der mit Widerwillen
gekippte
Schnaps begann seine Wirkung zu zeigen
„es war schwer zu beweisen aber der Irrtum
bewahrheitete sich
aus dem Haus aber kriegte ihn niemand mehr raus
der Staat hatte es ihm überschrieben das Gericht es
bestätigt
„oder hältst du dem Kerl die Stange der seit einem
Monat so herumredet
man aber nicht weiß ob für uns oder für die dort oben
für gescheit halten die sich alle hol sie der Teufel“
der Kopf des Schweines verschwand plötzlich
seine Hinterbeine schickten sich zu einer Himmelfahrt an
die Haken in den Sehnen schienen Auftrieb
zu bekommen von irgendwoher die dicke Kette das Spreizholz
das irgendeinen Abstand bewahren sollte
„zum Glück ist er ein Hüne von Mann“ „sag doch
endlich wer dich mir auf den Hals gehetzt hat“ der Anblick des Schweins wurde mehr oder weniger
erträglicher
„das hat er auch hoch gekriegt.“
„es kommt doch nicht ausgerechnet einer zu mir
nimmt meine Hände meine Nerven meine Energie
in Anspruch mir nichts dir nichts“ das Schwein nahm
immer mehr die Gestalt an wie wir die Städter der
zweiten
Generation es kannten den Gerüchen von Knoblauch
Pfeffer
rotem Paprika fehlte nur noch der Beigeschmack von
Geräuchertem
„an früher reicht das nicht heran, nie und nimmer“
„vielleicht hat der Herr Fotograf dich zufällig zu mir
geschickt
obwohl ich’s nicht glaube, er ist über beide Ohren
bei mir verschuldet“ die Würste lagen brav
zusammengerollt
auf der gehobelten Tischplatte die Heerschar von
Katzen
fasste erneut Mut
bekam aber nicht viel ab
auch der streunende Hund
hatte nicht mehr Glück
„besser so“
„ich habe denen die zu mir gekommen sind gesagt
– nur abwarten
wegen der Schweine werden eines Tages auch
die anderen
in meinem Hof auftauchen keiner kommt davon – von Anfang an
hab ich es ihnen prophezeit nur glauben wollte mir
keiner“
ein Huhn von den Gerüchen betäubt schnappte sich
ein Stück
Schwarte nach drei Schritten jedoch flogen schon
die Federn
mit erstarrten Augen schaute es dem kauenden Hund
zu
„warum sich noch immer giften“
„mir reicht es schon, es ihnen ins Gesicht zu sagen
um den Rest
hat sich wer zu kümmern“ die mit Salz gepuderten Schinken und
Speckseiten ergingen sich in Umarmungen
das Fass wird gleich gestrichen voll sein
„manchmal packt es ihn einfach er weiß selbst nicht
was“
„du meinst die Russen haben es wieder
durchgegeben
der steckt doch mit denen unter einer Decke weil
sie ihm drohen
sonst hätte doch niemand etwas davon gehört
wir opfern
mal wieder bisschen was für ein Ragout à la Bărăgan
das ist mir von den fünf Jahren geblieben nicht viel aber immerhin“
die Haken und die Kette begannen sich
zu langweilen
diese Geschichte hatten sie bestimmt zum hunderten
Male gehört
„wenn es nicht nur wieder so kommt dass wir
die Last
wieder mal tragen müssen“
„ein paar haben sich versammelt
vielleicht reicht das für ein Dekret oder zwei um
unserem Dasein
den schönen Schein zu verleihen“ der Tisch war
abgeräumt
heißes Wasser spülte ihn Zentimeter um Zentimeter
„wir können doch nicht schon wieder von vorne
beginnen“
„komme was wolle heute abend schaue ich dort mal
vorbei“
es roch nach Wermut wie im Bărăgan (woher hatte das jetzt
schon wieder jemand?)
die Katzen und Hunde der Nachbarn wehklagten
schon wieder
bekamen ein Stück Speck das in den Dreck gefallen
war
bekamen Flüche zu hören einen Maisstengel
nachgeworfen
einen Stein oder was sonst gerade zur Hand war
ein Fotoalbum von einem anderen Ende der Welt
machte am Tisch die Runde und der kleine Kessel
aus Gusseisen mit dem Ragout
es war
der 15. Dezember 1989 das bloß
um intakt und wie es sich gebührt
das scharfe Gedächtnis wachzuhalten an jene Zeit
die wir zweifellos anders nicht hätten verbringen
können

Cannes, Mai 1998 (Übersetzung:  Johann Lippet)

 

 

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