Zum Glück für die Lyrik & die Lyriker häufen sich in letzter Zeit die Stimmen, die vehement ein Sich-Besinnen auf Qualität, Originalität, Konzentration, Auseinandersetzung, Engagement und Leidenschaft in der Dichtung fordern. Dabei beziehen sich die Autoren sowohl auf äußere und innere, formale und inhaltliche Merkmale. Besonders zu unterstützen ist in diesem Zusammenhang die Forderung nach Belesenheit und (Aus)Bildung des Dichters: der Schreiber irrt, der da glaubt, moderne Lyrik sei schon, wenn Verszeilen abgeteilt, Reimschemata vermieden oder kluge Gedanken, kombiniert mit interessanten Bildern, mehr oder weniger willkürlich zeilenspringend (die innere Gesetzmäßigkeit des Freiverses ignorierend) aufs Papier gebracht. Noch mehr irrt der, der bei Lyrik an Wahn, Rausch, Trunkenheit, Schwermut, Überdruß und dergleichen Phänomene denkt. Nein, Lyrik ist immer Inspiration und Plan, Phantasie und Kalkül, Traum und (lyrische!) Logik, Melancholie und Konzept, Kreativität und Vorstellung, Zerrissenheit und Konstruktivität, Besessen- und Bewußtheit: Der Dichter ist beim Schreiben oft so kühl-distanziert wie ein professionell arbeitender Kriminaler, und wer sich beim Schreibprozeß nicht kritisch über die eigene Schulter zu schauen gelernt hat, sollte zwar weiterschreiben – wie schön, wenn es Millionen täten! -, aber darauf verzichten, Öffentlichkeit zu suchen – denn eigentlich gibt es bereits Gedichtbücher genug, womit wir beim Hauptthema wären: Auseinandersetzung mit Lyrik braucht, kann, darf doch vom Lyriker nicht gefordert werden! Wer nicht selbst den leidenschaftlichen Drang nach Erkenntnis auf dem Gebiet verspürt, wo er Fachmann sein möchte, hat den subjektiven Glauben an die Berufung zum Lyriker (zum Schaden der Lyrik) offenbar nicht einer radikalen Prüfung unterworfen; nehmen wir doch die Schreibarbeit wenigstens so ernst wie die Tätigkeit des Mechanikers, dessen Werkstatt wir unser Automobil unter der Voraussetzung anvertrauen, daß er auf dem neuesten Kenntnisstand und sie bestens ausgerüstet ist! Kennzeichen des redlichen lyrischen Fachmannes, der seine Texte Lesern als Kommunikationsangebot zur Verfügung stellt: Er ist literarisch und literaturtheoretisch auf dem laufenden – indem er sich beispielsweise einen fortwährenden (exemplarischen) Überblick über die großen und kleinen Fachzeitschriften, Fachbücher, Anthologien und Lyrikbände verschafft -, bildet sich sprachlich / rhetorisch ständig und selbstverständlich weiter, verzichtet auf die Niederschrift eigener Texte zugunsten der Lektüre von beispielsweise Novalis, Hölderlin, Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, Benn, Seferis oder PoeGedichten, (dunkel anmutenden) Lichtquellen von Dichtern, von denen wir wissen, wie bewußt (und wie modern) sie ihre Verse gesetzt haben. Und ein Charles Bukowski (dessen Epigonen doch alle wissen müssen, welch ein Bücherwurm er von klein auf war!) wußte genauso, was damals er tat, als er seine Lyrik von Rhetorik und sonstigen Feinheiten befreite: In seinen guten Gedichten spürt man das kalkulierte Vorgehen wie die Hundeschnauze an der Backe – cool konzipierte Lässigkeit, authentisch, originell, beeindruckend. Ja, die Kenntnis rhetorischer Figuren (verschiedener Versmaße, Gedichtformen u.s.w.) ist absolut notwendig – das wußte Bukowski – gerade wenn dieser Lyriker ganz darauf verzichten, bewußt eine völlig andere Richtung einschlagen, seine Lyrik von diesem als einengend und manieriert empfundenen „Ballast“ befreien will. Drei Bücher seien an dieser Stelle hervorgehoben, denen ich wesentliche lyrische Kenntnisse & Erkenntnisse verdanke: DAS GROSSE DEUTSCHE GEDICHTBUCH (hrsg. von K. O. Conrady), DIE STRUKTUR DER MODERNEN LYRIK (Hugo Friedrich) und WOZU LYRIK HEUTE (Hilde Domin). — Lyriker zu sein bedeutet, eine neue Welt präsentieren zu können, die eben ganz anders ist als die Welt, die wir (fälschlicherweise?) die „Realität“ nennen und ganz anders als die lyrische Sprach- und Formwelt bereits bekannter Dichter. – Traum, Phantasie, Erlebnis, Gedanke, Stimmung und Sprache sind grenzenlose Landschaften, deren Modellierung und Bearbeitung (Zertrümmerung, Chiffrierung, Montage …) die künstlerische Tätigkeit des Lyrikers schlechthin ist. Lyrisches Schreiben ist beseeltes, bewußtes Tun – grundsätzlich jedem Menschen offen, der Lyrik liebt (und tatsächlich über die notwendigen Begabungen verfügt). Und wer Lyrik liebt, wird sie lesen, lesen, lesen (welcher Liebhaber wollte denn nicht diesem geliebten geheimnisvollen, erhabenen Wesen bei jeder sich bietenden Gelegenheit begegnen?) – und seine Texte nicht eher aus der Schublade hervorholen, bis er seine Begabung wirklich erkannt und in seinen Texten (seiner Sprache) die gewisse Besonderheit entdeckt zu haben glaubt, wie er sie nirgendwo anders entdeckt hat – denn (um nur zwei Beispiele zu nennen) visuelle & konkrete Poesie + „experimentelle“ Lyrik wurden auch schon von Barockdichtern verfaßt, und nie war die Lyrik moderner als im 19. Jahrhundert. Grenzenlos bleiben trotzdem die gleichsam magischen Möglichkeiten der Sprache (endlos kombinierbar mit zahllosen Formen, Themen und Inhalten) in der Lyrik – bis hin ins Unendliche: Und dennoch (deswegen?) wird sie letztlich immer fragmentarisch bleiben. – Findet die Mehrzahl der Lyriker zu den Grundvoraussetzungen modernlyrischer Denk- und Schaffensweise zurück – weg also vom privatistisch-larmoyanten Ich hin zum verfaßten lyrischen Ich, dessen entpersönlichten Charakter nicht nur T. S. Eliot so sehr betonte? (Ein Krolow, ein Fritz, ein Kunert sind wohl Garanten dafür, daß die moderne Lyrik mit ihrer Assoziations-, Suggestions- und Symbolkraft nicht kleinzukriegen ist: Oho!) Erleben wir – also – schon bald wieder ein neues blaues Lyrikwunder? Das wäre allerdings — wunderbar …
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Dieser Essay erscheint in leicht veränderter Fassung innerhalb eines 20seitigen Sonderteils in Muschehaufen/ Viersen Nr. 37 (1998): Theo Breuer, „Mein alternatives Lyrik-ABC“
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.