Eine Sternstunde des Rock’n’Roll

Jeder weiß, dass der Rock im August 1972 seine Perfektion erreichte.

(Homer Simpson)

Um der Enge eines proletarischen Haushalts zu entkommen gab es zu Beginn des 1970-er Jahre drei Möglichkeiten, entweder man entfloh zum pöhlen auf einen Bolzplatz, zum Lesen in die Stadtbücherei oder man setzte einen Sennheiser-Kopfhörer auf, um Musik zu hören. Die bevorzugte Wahl war zur dieser Zeit das mutmasslich „beste Live-Album aller Zeiten“, es wurde an drei Abenden im August 1972 in Osaka und Tokio aufgenommen: Made in Japan.

Dies ist inzwischen 25 Jahre her. Zeit, sich der Jugenderlebnisse zu vergewissern, zumal der Begleittext der CD-Version versichert, dass die Konzertmitschnitte nicht nachträglich mit Overdubs verändert wurden.

Erster Eindruck, das unangenehme Rauschen, Knacken und Knistern der Schallplatten-Version entfällt. Die Musiker von Mark II waren in der Form ihres Lebens und so erwachsen, dass sie ihre Konkurrenz untereinander musikalisch ausgetragen haben. Ähnlich wie Led Zeppelin waren sie eine Band, die gemeinsam auf eine Abenteuerreise ging. Auf dem Live-Album aus dem fernen Osten hören wir prägnanten Hard-Rock in unmittelbarster Form: Blackmores markante Gitarrenriffs, Lords klassische Kadenzen und Gillans ekstatischen Gesang sowie die offen ausgetragene musikalische Konkurrenz zwischen Hammondorgel und Stromgitarre, vorgetragen von intensiver Improvisationsfreude. Diese Konkurrenz ist in der Form des Call an Response musikalisch sehr fruchtbar, sie vereint die markanten Hard-Rock-Riffs Blackmores mit den klassischen Kadenzen und Fugen von Lord. Dieses Wechselspiel schafft eine enorme musikalische Spannung. Die Duelle, die sich die beiden Musiker während der Live-Auftritte liefern, sind eindrucksvoll auf „Live in Japan“ (wie die LP in Japan heißt*) dokumentiert.

1992, als ich in der früheren UdSSR auf Tour war, erfuhr ich, dass ein Song, der ohne erzählerischen Gehalt geschrieben worden war, von Widerstandsgruppen im Untergrund in einigen osteuropäischen Ländern als Hymne übernommen wurde. Es ist für einen Sänger und Songwriter beängstigend, wieviel Einfluss man manchmal hat, ohne es zu wissen.

Ian Gillan

Besonders die Live-Version von Child in Time unterstreicht, dass dieser Protestsong gegen den Vietnamkrieg zu den bekanntesten und wichtigsten Liedern der Rockmusik überhaupt zu rechnen ist. Der Song beginnt mit einer klassischen instrumentalen Einleitung, in der zwei Kontrahenten vorgestellt werden: eine ruppige Rockgitarre und eine an Bach geschultem Orgelspiel. Mit der „Schweine-Orgel“ sorgt Jon Lord für den unverwechselbaren Sound von Deep Purple. Zwei Grundlinien und ihr Kontrast deuten sich somit an, von denen die gesamte Rockmusik der siebziger Jahre geprägt war: stahlhart versus soft. Auf der fundierten Basis des Schlagwerkers Ian Paice und des Bassisten Roger Glover entwickelt Purple als improvisationsfreudige Kollektiv den Stil zu einer rhythmusbetonten, geradlinigen Musik weiter.

Die Band war damals auf dem Höhepunkt ihres Könnens.

Jon Lord

Das macht den Konzertmitschnitt im Nachgang trotz des Remastering nicht besser, aber hier entfaltet sich von unseren Ohrmuscheln ein authentischer Eindruck von Ende des Industriezeitalters, wir hören gleichsam auf einer Metaebene den Stillstand der fordistischen Fliessbänder, das Schließen von Zechen und das sich abzeichnende Ende der mechanischen Zeitalters. „Hard-Rock ist eine strukturkonservatische Musik, unberechenbar nur in den Solis des launischen Ritchie Blackmore; dem Faust des Rock’n’Roll“, würde mein älteres Ich dazu sagen.

Blackmore zersplitterte in nur fünfzig Sekunden die gängigen Konventionen der Beat-Ära und machte die sechziger Jahre der Popmusik zur Historie.

schrieb Eclipsed über die Einleitung des Titels Speed King

Für mein jüngeres Ich, der sich in seinem Jugendzimmer mit einem Kopfhörer von allen Unbillen der Welt abgeschirmt hat, war es eine Sternstunde des Rock’n’Roll.

Was mein älteres Ich schon damals gefreut hätte, sind die Live-Versionen von ‚Black Night‘, ‚Speed King‘ und ‚Lucille‘. Black Night, eigentlich einer den bekanntesten Songs der Band, ist aber sonst keinem Album zuzuordnen, die Band interpretiert ihn live sehr eng am Original der Single-Version. Speed King stammt vom Album „In Rock“. Im Gegensatz zu Black Night improvisiert die Band mehr, vor allem das Duell Gesang – Gitarre – Orgel im Mittelteil ist hörenswert, wenngleich als B-Note ein Minus für die Tontechnik anzeigt ist. „Lucille“ ist eine echte Überraschung, die Coverversion eines Rock’n’Roll Titels von Little Richard. Es endet dort, wo alles begann. Danach folgte Punk, aber das ist eine andere Geschichte*.

 

 

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Made In Japan von Deep Purple, veröffentlicht im April 1973 in der Mark II-Besetzung mit Ian Gillan, Ian Paice, Jon Lord, Roger Glover und Ritchie Blackmore. (Reissue, Remastered, 1998)

Japanische Wertarbeit aus der Metallwerkstatt

Weiterführend  

*Lesenswert der Essay von Peter Glaser: Attrappe einer Kulturgeschichte von neulich. Der „Ratinger Hof“ bildete in Düsseldorf eine subkulturelle Scharnierstelle. Die Rheinmetropole war so etwas wie die heimliche Hauptstadt der alten BRD, im Bermuda-Dreieck zwischen der Uel, dem Einhorn und dem Ratinger Hof traf man auf geballte Zeitgeist–Kompetenz. Lesen Sie auch den Artikel Perlen des Trash über 25 Jahre Gossenhefte. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Lesen Sie auch über Kraftwerk Pop mit Pensionsanspruch. Eine Wiederveröffentlichung der Neu!-Studioalben ist auf dem Label Grönland erschienen. In 1999 geht KUNO der Frage Label oder available? nach.

 

 

Funfact: *Ursprünglich sollte „Live in Japan“ nur in Japan erscheinen. Den Titel Made In Japan erhielt das Album, als sich die Plattenfirma für einen weltweiten Vertrieb entschied. Dieser Titel ist, laut Jon Lord, britische Ironie.