Kappensucher

Während zu dieser herbstlichen Zeit in kleinen Städten die traditionellen, bisweilen sogar tausendjährigen Jahrmärkte und Kirmessen Hunderttausende von konsumorientierten und freudesüchtigen Menschen anziehen. Während dort die Lustbarkeiten, wie Karussells und Losbuden, wie Bierzelte und Würstchenbuden fast von den Menschen überrannt werden. Sich bierselige Männer mit angeschickerten Frauen anfreunden, diese in einigen Fällen sogar für eine Nacht nach Hause abschleppen, um am nächsten Tag zu bemerken, dass man sich irgendwen Fremdes doch nur schöngetrunken hatte. Kinder, die Eltern um Gelder anquengeln, die man eigentlich zurücklegen wollte, dann aber doch mehr oder weniger bereitwillig für das schnelle Glück eines Adrenalinstoßes hervorgezaubert werden. Man kann den Duft der verbrannten Mandeln riechen, die Gemüsepfannen, die in riesigen Metallschüsseln über offenem Feuer zubereitet werden. Sieht die zauberhafte Zuckerwatte, die Paradiesäpfel, die Kokosnüsse, die pyramidenförmig garniert in ständigem Kokoswasser liegen. Die Pommesbuden zaubern Glück aus Fett, Riesenräder lassen taumeln, unglaublich schnell drehende glitzernde Lampenwunder mit überschlagenden Kabinen. Die Jugend tummelt sich um die Autoscooter, probiert sich in Balzritualen, glückselig, wenn es gelingen sollte. Vierzehnjährige Mädchen, aufgetakelt wie eine Fregatte auf hoher See, sähen ihren achtzehnjährigen Geschlechtsgenossinnen im Normalzustand ähnlich, wären die nicht aufgemotzt wie kleine dreißigjährige Millionärinnen, und Frauen um die fünfundvierzig versuchen mit möglichst jugendlichem Outfit  und zentnerweise Makeup Eindruck auf die halbtrunkene Gesellschaft zu schinden. Guck dir die an, die hat sich gut gehalten. Oder geht ja gar nicht.

Herr Nipp hatte sich aus diesem Muss herausgezogen, war mit Freunden in den Wald gegangen, Pilze suchen. Es war still dort, keine Menschenseele und schnell füllten sich Korb und Leinenbeutel, Perlpilze, Maronenröhrlinge, Ziegenlippen, ein Pfifferling. Man fand eine ganze Kolonie bitterer Gallenröhrlinge, herrlich anzusehen würden sie die komplette Pilzpfanne ungenießbar machen. Täublinge, durchaus essbar, aber auch die weißen Knollenblätterpilze ließ man lieber stehen. Einige Ritterlinge, die nicht eindeutig zuzuordnen waren und anderes Kroppzeug hatte man erst gar nicht beachtet. Sicherlich auch dabei einige schmackhafte Arten. Ein Steinpilz hatte sich nicht gefunden, auch kein Birkenpilz oder die inzwischen selten gewordene Rotkappe. Ein Lacktrichterling zeigte leuchtendes Violett. Pilze haben eine ungeheure Bandbreite von Farben, von Gerüchen und sicherlich auch Giften. Die Verbindung von Wandern, Sammeln und darüber Debattieren, welche denn nun am besten schmeckten, welches Rezept man anzuwenden hatte, machten das Pilzesuchen zu einem ganzheitlichen Erlebnis. Wenn das orange Blut aus den Schnitträndern der Reizger quoll, die selber grün und orange oft an Wegesrändern zu finden waren, konnte schon einmal Unmut aufkommen, warum denn gerade diese zu sammeln waren. Vor einigen Jahren hatte Herr Nipp sogar eine Krause Glucke gefunden und einen Teil daraus mit nach Hause genommen, eine ganze Mahlzeit für vier.  Auf einen Fuchsbau, oder war es ein Dachs, stieß man, entdeckte dort auch den Unterkiefer eines Wildschweins, auch einen Maiskölbling, wie einer der Freunde scherzhaft meinte, als er einen halbgefressenen Maiskolben in die Luft hielt. Abends wurden die Fundstücke gemeinsam gereinigt, mit Öl, Salz und Rosmarin gebraten (Pfeffer machte aus der Vielfalt der Geschmacksrichtungen in einer Pilzpfanne letztlich nur ein Einerlei), Zwiebeln und frischer Knoblauch aus eigenem Garten wurden dazu geschnitten, die Augen tränten. Scharf angebraten eine Köstlichkeit. Alle fünf hatten schnell ihre Teller bei gutem Wein aus Südtirol verputzt. Nur manchmal, wenn sie sich etwas verlegen anguckten, konnte man die Frage lesen, wer wohl als erster an der Vergiftung sterben würde. Schließlich hatte nur einer von ihnen etwas Erfahrung mit dem Sammeln von Pilzen.  Und von fern hörte man den Lärm der Kirmes. Vielleicht hätte man doch die dortigen Champignons aus der Pferdemistzucht nehmen sollen.  Die wurden ebenfalls in rauen Mengen angeboten.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421