Geschätzter Schatz

Man kann an freien Tagen die Seele baumeln lassen, sich irgendwo auf die Liege legen und den Herrn einen guten Mann sein lassen. Einige Leute haben allerdings die sogenannten Hummeln im Hintern und werden schon beim Gedanken an dieses neudeutsch genannte Chillen oder abhängen nervös, sie können auf diese Weise eben gar nicht abschalten, sondern verstricken sich letztlich doch immer wieder in ihren Gedankenfallnetzen, die in den letzten Traum- und Wachzuständen gewoben wurden. Alles ist besser, als die Zeit einfach so verstreichen zu sehen.

Da Herr Nipp grundsätzlich morgens recht früh aufstand, hatte er auch immer einen ganzen Tag und die halbe Nacht vor sich, denn vor eins, halb zwei würde er wie immer nicht ins Bett gehen. Er hatte irgendwann in der Novelle Tristan von Thomas Mann eine schöne Begründung für das frühe Aufstehen des Protagonisten gelesen: Eigentlich sei er ja ein Spätaufsteher, er habe nur immer solche Gewissensbisse, wenn er lange liegen bleiben würde. Dann wurde die elektronische Post beantwortet, soweit dies möglich war. Er kochte sich einen Kaffee und wartete darauf, dass auch die anderen Hausgenossen aufwachen würden.

Man frühstückte spät zusammen, zu diesem Zeitpunkt hatte Herr Nipp bereits drei Stunden Hausarbeit hinter sich gebracht und den Tagesverlauf geplant, und man beschloss mit weiteren Freunden in ein Besucherbergwerk zu fahren, welches Herr Nipp noch aus seiner Kindheit kannte, damals war man mit Ministrantengruppen oder Jugendvereinen auch dorthin gefahren und hatte es genossen, wenn die Grubenbahn über zehn Minuten durch die Dunkelheit rollte. Man hatte mit mehr oder mal auch weniger Interesse zugehört, was der Führer so zu erzählen hatte. Wenn nette Mädchen dabei waren, interessierte der Vortragende nicht ganz so sehr. Immerhin blieben immer einige Versatzstücke hängen.

Auch dieses Mal fand eine Tatsache sein besonderes Interesse. Wenn dort in den sieben Sohlen unter ihnen tatsächlich so viele tausend Kubikmeter Wasser gespeichert waren, soviel wie ein mittlerer Stausee, warum wurde dieser Schatz nicht genutzt?

Herr Nipp dachte ganz ernsthaft darüber nach, ob es nicht eines Tages möglich sein würde, die dort gespeicherte Wärmeenergie durch den Einsatz von Tauschern zu nutzen. Sogar Turbinen könnten installiert werden, welche die entstehende Bewegung des Wassers ausbeuteten. Warmes Wasser steigt bekanntlich, kaltes fällt wegen der höheren Dichte. Da mit der größeren tiefe auch die Wärme steigt müsste dieser Effekt ganz enorm sein. Man könnte ganz Dörfer damit versorgen. Auch der darüber liegende Freizeit- park wäre auf diese Weise autark vom sonstigen Strom- und Wärmenetz. Aber welcher Energieversorger hatte schon ernsthaft Interesse daran, weniger Gas zu verkaufen?

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421