Mosaikfugato. Sinnthese: Zerbruch

über Bernstein und Hans Ludwig Pfeiffer, Bildhauer, Maler

Ariadnefaden

Durchs Weltallschwarz stürzt torkelnd, haltlos, erdlos, nackt, das Nichts schauende aufgerissene Augen, entbrillt, ein Mann, schwerleibig kopfüber, ortlos – körperloses Entsetzen. Den irren Fingern entgleitet das rote Garn, ein zerbrochener Zollstock schwebt mit –

Hans Ludwig Pfeiffer, Bildhauer, Maler[1]

1903 in Rom geboren. Der Vater wird Kunstprofessor in Königsberg. Der Sohn geht nach Berlin, studiert Bildhauerei und Malerei, lebt von Karikaturen für die satirische Presse der Weimarer Republik, hat ein Atelier und hofft auf künstlerischen Erfolg.

Erste Lebenserosionen: Seine Künstlerexistenz, die sich in den Bahnen der Expressionisten bewegt, wird gelähmt von Hitlers Kunst-Diktat, Pfeiffer überlebt als Kulissenmaler für die Unterhaltungsfilmindustrie, entwirft Reklamebilder und malt heimlich die eigene Art.

Er zieht als Sanitäter in den Krieg, Ostfront. Das Berliner Atelier wird zerbombt. Als die letzten Kopfverwundeten in einem Württembergischen Lazarett gestorben oder entlassen sind, ist Pfeiffer ein freier Künstler ohne Werk, ohne Leinwand, mittellos.

Uhrpendelstechschritt

Ein Soldat, nackt, Dolch im Taillengurt, der stahlbehelmte Kopf ist stur horizontorientiert. Er geht mit exakt gestreckten, pendelnden Armen im Paradeschritt auf eine Grube zu, über der eine Pendeluhr in der Luft steht, 12 Uhr, das Pendel ist mit dem ausschreitenden Bein und dem mitschwingenden Arm gleichgeschaltet. Das Bein schon über der Tiefe  ——-.

Für einen Hungerlohn reparieren die überlebenden Künstler die kriegszerstörte Kunst am Bau, Fassaden, Figuren, Reliefs, Tore, Fresken – meist nach vorhandenen Plänen, oft aber auch nach eigenen Ideen im vorgegebenen Stil. Pfeiffers Barockengel in den Räumen der Stuttgarter Residenz entwickeln die Barocklust noch ein paar Epochenjahrzehnte weiter, unter den Stuckdecken toben die Putten als Kinder der antiautoritären Erziehungsära, – und die siebzehn Engel in der bis auf die Grundmauern zerbombten Marktkirche in Freudenstadt werden zur horizontalen Version der Engelssäule im Straßburger Münster.

Langsam heilen, lückenhaft, fragmentarisch, diese Wunden, aber kein Gips rettet das Seelentorso, abends hackt und schlägt die Erinnerung – Krieg, Demütigung, Familientrümmer, Tod ——-

Berggipfelmeer

Eingelagert zwischen vereisten Gipfelzacken, über denen die Tiefen der Erdsphäre in feinen Streifen aufsteigen – Hellblauweiß, Hellblauschimmer, Lichtblau, Ultramarinblau, zurück zu Hellblauweiß, dann Weiß, Zitronengelbschimmer, Gelblicht –, eine Terrasse baumlanger Pianotasten. Davor öffnet sich zum Himmel hin eine tiefe Todeskammer. Die Stufen einer Treppe, die aus dem Berginnern zu den Tasten führt, steigt ein Mann hoch, nackt, umgeben von Notenlinienbändern, die ins Gipfelmeer wachsen und eine Gruppe in Tücher eingehüllter Menschen erreichen, auf deren kopflosen Rümpfen sich riesige Ohren aufrichten – Imagination einer Zukunft, die der Krieg zerhauen hat: Kompositionen eines Toten in leblosen Gipfeleiszonen, ungeborener Geist, ungeschriebene Musik vor einem erdfernen Publikum im ungelebten Frieden himmelnaher Farbharmonie: Pfeiffers Erinnerung an den im Krieg gefallenen Bruder.

Bernstein

Noch sind die Kunstakademien in Deutschland nicht wiedereröffnet. In den Trümmern ist kein Lebensraum für Kunst, vordergründiger sind die Aufgaben der Überlebenden. Trotzdem gründet Pfeiffer zusammen mit Paul Kälberer, Maler aus Glatt bei Sulz am Neckar und Vorsitzender des neuen Künstlerverbandes Württemberg-Süd, im ehemaligen Kloster Bernstein eine Kunstschule.

Der Wiener Literaturwissenschaftler Thieberger, der in der Zeit der Illegalität als verfolgter Jude sich in Frankreich verbarg, unterstützt das Bernstein-Unternehmen, jetzt als französischer Besatzungsoffizier.

Das Klostergebäude, das den Nationalsozialisten als Ferienheim der Hitlerjugend diente, ist 1946 geplündert und verwüstet. Die ersten Kunstschüler richten Bernstein wieder her; für den Winter werden Ofenrohre aus Konservendosen installiert. Der Kräutergarten der Mönche wird Gemüsegarten, der Weinberg am angrenzenden Hügel lebt wieder. Als Hörsaal und Gemeinschaftsatelier dient die leere Klosterkirche. Pfeiffer organisiert alles, beschafft die notwendigen Malutensilien, die Farben werden aus Erde, Pflanzen und Eigelb hergestellt. Die Bauern der Umgebung geben Butter, Brot, Milch, und Kartoffeln für Bilder, die Pfeiffer und seine Schüler malen. Pfeiffer ist Dozent und Hausmeister, Gärtner und Klempner, Verwalter und Dienstmagd in einem. Die etwa zwanzig Schüler zahlen, soweit sie können, im Monat 50 Reichsmark für Unterkunft, Essen und Unterricht. Eine Ausbildungsurkunde gibt es nicht, weil eine staatliche Anerkennung der Schule nicht realisierbar ist.

Die Kunstschule ist ein Verein mit Satzung, eine der ersten Bürgerinitiativen nach dem Krieg. Die Kompetenzen sind kaum definiert: Kälberer fungiert als ‚Außenminister’ und regelt den Papierkram mit den Behörden und der Besatzungsmacht, Pfeiffer verbindet Kunst und Leben auf dem Bernstein.

Joachim Geißler ist Mitte zwanzig. Er kennt außer seiner Schulzeit am Gymnasium nur den Krieg.

In den letzten Kampfhandlungen an der Ostfront riss ihm eine Granate beide Füße ab und traf sein Hirn. Das Lazarett für Kopfverletzte war inzwischen in einem Güterzug stationiert, der in die Heimat fuhr. Geißler wurde vom leitenden Arzt als lebensunwertes Leben eingestuft, der Fiebernde galt als irreversibel hirnkrank, war Ballast für das überforderte und mittellos rollende Schienenlazarett. Der Sanitäter Pfeiffer bewahrte den in seinen Augen langsam Genesenden vor dem medikamentös verordneten Exitus, bewacht Geißlers Bett und pflegt den Kopf gesund.

Versehen mit den erforderlichen Papieren zum Passieren der Militärbezirksgrenzen fährt Geißler knapp zwei Jahre später nach Bernstein. In Fischingen, letzter Bahnhof auf dem Weg zum Kloster, lässt er sich von einem Bauern auf dem Heuwagen für fünf Reichsmark mitnehmen; die bandagierten Beinstümpfe hängen von der Ladefläche des von Pferden gezogenen Wagens herunter – die letzten paar hundert Meter kriecht er auf allen vieren, bis Bernsteinschüler ihn bemerken und ins Gebäude tragen. Seine Klosterzelle wird sein Atelier. Pfeiffer erteilt dort bis tief in die Nacht Einzelunterricht.

Das große Individuum

In den Umrissen einer schwerleibigen Gestalt – breitbeinig, hilflos nach unten gesteckte Arme mit geballten Fäusten, der Kopf mit breitem Nacken gesichtslos und im Verhältnis zum bedrohlich wirkenden massigen Rumpf winzig – türmen sich im Spektrum grauer Farbtöne nackte Körper, Männer Frauen Kinder, in dichten Gruppen, gereiht, auch einzeln und beziehungslos, schreiend, weinend, träumend, angstvoll, lachend, zufrieden; Hunderte von Seelenporträts und Aktperspektiven in einen Körper geschmolzen. Die Umkehrung der Wand Michelangelos! An einer Stelle, an der Schulter, ballt sich eine Menschengruppe, bildet eine Auswucherung des sinnlos auf breiten Beinen wankenden Gesamtleibes, will zum Arm wachsen, will handeln, oder will herausfallen in die weiße Tiefe des Nichts. Aber die Ausstülpung der Wollenden ist zu schwach. Zu stark die Kräfte der kollektivierten Arme, die die Ausbrechenden festhalten und zurückreißen.

Die Bernsteinschüler, dem Kriege entronnen, arbeitslos, heimatlos, unwissend, sind aufgefangen, lernen wieder gehen, denken, handeln, sehen.

Pfeiffer besucht mit ihnen eine Ausstellung der BRÜCKE-Maler in München, zwanzig, dreißig Jahre tief ist die Grube, die Hitler und der Krieg der Kunst in Deutschland grub; verführt, verdorben, verbogen die Hirne so vieler – es ist schwer, die Anker über diese Grube zurückzuwerfen, am fast Verlorenen anzuknüpfen für eine eigene künstlerische Zukunft. Nur wenigen Bernsteinern wird das gelingen, ohnehin taugt für die meisten der Bernstein nur als Sprungbrett in die täglichen Berufe.

Pfeiffer muss Geld verdienen, damit die Kunstschule lebt; für Wochen überlässt er die kaum erwachsenen Schüler ihrer bisher kaum je verantworteten Freiheit. Während Pfeiffer Schlösser, Kirchen und Rathäuser restauriert, verschwimmt die künstlerische Arbeit der Klosterschüler im Wein, die im Krieg erlittenen Lebensdefizite werden rauschhaft kompensiert, und ohnehin ist der zurückkehrende Meister kein strenger Erzieher und lenkt die Kunst-Bildung in unerschrockener Güte und Gutmütigkeit – genügend Chaos also für die Erzeugung starker nacherlebender Phantasie, genügend Autorität für den Bau der Fundamente künstlerischer Entwicklung. Die ersten Serien der Stillleben, gemalt mit feinsten Erdfarben, werden in der Klosterkirche aufgestellt, Pfeiffer analysiert die Bilder von der Orgelempore aus. Die Eitempera-Bilder leuchten matt-sanft im intendierten Pfeiffer-Ton, in schwäbische Alb-Heiterkeit gewendete Worpsweder Farbmelancholie.

Bernstein: Seelenwundenheilort, Besinnungsort, Kunstwiederbelebungsort, Idylle im Kahlschlag, behauptet seine Existenz als pädagogische Provinz für durchziehende Suchende zunächst unangetastet von der restaurativen Wiederaufbau-Eiszeit, unberührt von Währungsreform und Republikgründung, bis 1951.

Dann sinken die Schülerzahlen, da inzwischen auch die Kunstakademien wiedereröffnet haben; der Kultusminister schätzt die Offenheit Bernsteins, bindet die Gewährung der Zuschüsse aber an die Auflage, Pfeiffer solle, um die Attraktivität seiner Kunstschule zu erhöhen, einen namhaften Dozenten auf den Bernstein bringen. HAP Grieshaber, der Heckels Lehrstuhl in Karlsruhe erben will, für den Ruf aber nur in Frage kommt, wenn er eine Kunstschultätigkeit nachweisen kann, wird von Pfeiffers Schwester für eine ‚Gastdozentur’ gewonnen. Riccarda liebt den polygamen Holzschneider, später heiratet sie ihn.

Grieshabers erste Auftritte auf dem Bernstein geraten zum vollkommenen Kahlschlag für alle Pfeifferschen Saaten. Grieshaber inszeniert sich als temperamentvoller Einzug der Moderne in die rückständige Provinz, begeistert die Schüler mit intuitionistischen Manifesten, beschwört die künstlerische Form, zelebriert Saufmessen und walzt den stillen Pfeiffer mit dem Aufbruchsgeschrei eines Wirtschaftskunstwunderpropheten nieder. Grieshaber will (im Hinblick auf die Erziehung zu eigener Kunst) nichts anderes als Pfeiffer – nur auf andere Weise will er Leben und Kunst versöhnen. Er richtet Kurse für Typographie und Photographie ein, protegiert künstlerisches Industriedesign und gewinnt mit Reklameaufträgen für Schüler dann und wann einen Industriebetrieb als Sponsor. In kurzer Zeit erreicht er, dass die meisten Schüler die Kunstschule verlassen, weil seine Außenorientierung den Weg in praktische Berufe ebnete.

HAP inszeniert sich selbst. Er will Bernstein zu einem neuen Goethe-Weimar des 20. Jahrhunderts hochstylen, ein schwäbisches BAUHAUS kreieren, er umgibt sich mit einem Stab organisatorisch versierter Inszenierungshelfer – unter ihnen Margot Fürst aus Israel mit ihrem Mann –, deutsche Schriftsteller und Künstler werden eingeladen, diese Bernsteinbewegung mitzutragen. Gottfried Benn aber antwortet nicht, und Theodor Heuß meint, das Unternehmen Bernstein sei etwas zu hochgestochen.

Das Scheitern Neu-Weimars rettet HAP als Alleinzentralisten in Bernstein und schafft mit der Zeit, da werbestrategisch sublim publizierte Bernsteinfiktionen entstehen, einen kleinen Mythos, der zur Erlangung der Karlsruher Heckel-Professur ausreicht.

Pfeiffer stört in diesem Konzept. Grieshaber lässt seine Satelliten einen konkurrierenden Trägerverein gründen, der Pfeiffers Bernsteinschule ausmanövriert und Pfeiffer am Ende der Auseinandersetzungen de facto den Status eines ungern geduldeten Untermieters aufzwingt.

Kälberer ist zu krank, um Pfeiffer unterstützen zu können. Riccarda, inzwischen schwanger, steht auf der Seite ihres Liebhabers. Die wenigen noch auf dem Bernstein bleibenden Schüler sind in Lager zerfallen und ohnmächtig. Und die regionalen Behörden, die die Pfeiffer-Schule stützen, entpuppen sich in ihren Attacken gegen Grieshaber & Co. als Immer-noch-Nazis und Antisemiten. Indem sie gegen Grieshaber den Verfassungsschutz mobilisieren, weil sie kommunistische Umtriebe auf dem Bernstein vermuten, Grieshabers Wirken als Unwesen entarteter Kunst und seine Freunde als eine sich an Deutschland rächende Judenclique diffamieren, fallen diese subalternen Behörden Pfeiffer in den Rücken, der von all den schriftlich geführten Auseinandersetzungen nichts erfährt, und machen es Grieshaber leicht die Alleinherrschaft auf dem Bernstein zu erringen. Am Ende steht Pfeiffer selbst unter dem von Grieshaber nie dementierten Verdacht Nazi und Antisemit zu sein; wenigstens in künstlerischer Hinsicht erscheint Pfeiffer als Gesinnungs-Genosse des Kunstfaschismus. Er kann sich nicht wehren. Das Kultusministerium in Stuttgart lässt Pfeiffer fallen. Pfeiffer gibt auf. 1954 verlässt er den Bernstein endgültig.

Undurchsichtig bleibt für ihn, dass er nun auch keine staatlich geförderten Restaurierungsaufträge mehr erhält. Völlig mittellos erreicht der Verzweifelnde nach monatelanger zielloser Wanderung den Schlossberg der kleinen ehemaligen Kreisstadt Neuenbürg an der Enz. Dem Verhungern nahe wird der Lebensmüde Tage später aufgefunden: Lebensleere, Todeswunschkraftlosigkeit, Seelenquerschnittslähmung ——-.

Prometheus nach dem letzten Krieg

Auf der Schulter liegend ein Mann – die an den Boden gepressten Arme stützen den schräg aufgerichteten Rumpf und das Gewicht der vertikal empor gestreckten Beine. Der Kopf fällt an einer Kante des Podestwagens hinten über.

Die Augen, nach hinten gerichtet, mit Goldmünzen verbrillt, sehen die tragische Akrobatik der selbstfesselnden Haltung nicht. Die Beine verwandeln sich vom Knie zum Fuß in schwärzlich verrauchte Schornsteine. Der Po trägt das aus dem Darm gepresste stangenkubische Betongebäude eines Bank- oder Versicherungskonzerns, über dessen monotone Fensterreihen ameisenartige Insekten kriechen. Auf dem Dach steht die Miniatur der Statue of Liberty, mit einer blinkenden Blaulichtfackel winkend. Kleine Spielzeugautos überfahren die Arme des aufs Kreuz Gelegten, Brust und Bauch der Figur ohne aufrechten Gang sind anilinfarben besudelt. Nackt.

Pfeiffer findet wieder Arbeit als Restaurator, erhält sich mühsam den Überlebenserhaltungswillen. Er mietet die Baracken am Schlossberg, in denen das Stadtbauamt durch kriegsbedingte Raumnot untergebracht war, zu einem geringen Preis. Raum für bescheidene Atelierarbeit, doch tastende Leere im schädelvoll gelähmten Hirn.

Indem die äußeren Verhältnisse sich bessern, nimmt die Kraft zu, dem schwer verwundeten Leben ein Ende zu setzen. Die Brandbomben, die das Atelier in Berlin vernichteten, und Bernsteinerinnerungsbrand treiben Pfeiffer zur letzten Lähmung an. Plötzliche Zufallskomik: Der scheppernde Radioklang einer Bach-Kantate aus der Ferne und eine Heiratsannonce in der Frauenillustrierten CONSTANZE (Grünert, der Buchhändler, überlässt Pfeiffer freundschaftlich unverkaufte Zeitschriften) erzeugen eine kleine Kraft, den Lebensrest zynisch herauszufordern – Lebenssinnlosigkeitsbeweise als Lebensverlangengewaltschrei.

Der Zyniker baut sich die Falle, in die er gehen will, um ins Leben zurück gefangen zu werden. Pfeiffers Falle war so gut konstruiert, dass sie Lebenssinnwahrscheinlichkeit konstituierte: Da er NICHTS erwartete, konnte ETWAS werden.

Antwort auf die Annonce der Greifswalder Ärztin N. (ICH SUCHE NUR EINEN GUTEN MANN): Dem bescheidenen Wunsch könne er mangels Qualifikation nicht entsprechen, er rate ihr aus eigener Erfahrung, ihre Suche nach dem Guten aufzugeben usw. Damit kommt er in die engere Wahl. Ein wenig später heiratet sie ihn. Er ist 55 Jahre alt, zeugt einen Sohn und entlässt sich, fast gesund, ins Leben zurück. Nach sechs Ehejahren stirbt die Frau an Krebs, der von der späten Schwangerschaft angeregt worden war. Fast wieder mittellos überlebt er die Jahre, nun wieder als Restaurator, bis er dann, als er das Rentenalter erreicht, auf Grund einer Erbschaft seine dritte Künstlerexistenz in den Gewölben der ehemaligen Kutscher-Loge des Schlosses begründen kann, endlich ganz frei ——-

Theatrum mundi

Pfeiffers Abbau der Seelenflöze beginnt, zufällig in der 68er Aufbruchsstimmung. Er haut die aufgestauten Lebenserkenntnisse ins Gips-Bild, schafft ein satirisch-düsteres Weltpanoptikum, avantgardistische Erzähl-Objekte von neobarocker Sinnlichkeit: Pop Art in der schwäbischen Provinz.

Pfeiffers Lebenstraumata verbildlichen sich in den Objekten: Publikationen der zu gültigen Aussagen gewordenen Lebenserfahrungswunden einer bis auf den Kern zermahlenen Seele.

Schöpfung und Krone der Schöpfung

Das Evolutionsdrama steht als Figurine auf gegipsten Schweinebeinen, breitbeinig aufrecht auf plattem, plastikfolienverpacktem Podest, der nackte Unterleib ist die animalische Basis, deren sich prostituierende Schamfront kaum verhüllt wird durch eine als Magdschürze dienende Tortenpapierdecke. Der Bauch, ein würfelförmiger Vitrinenkasten, vorn ein Glasfenster, enthält den unverdauten Mineralienmüll, eine schwer im Magen sich türmende Steinhalde.

Die zitzenartigen Brüste, aggressiv erigierte Jet-Turbinen, halten eine Viereckebene, die mit Steppengrasfransen bebortet sind. Die Brüste werden von Farnen überwuchert. Lässig, als wären sie zum Schlaf gebettet, ruhen die kindhaft kleinen schwachen Sphinx-Arme in den Pflanzen, die sich zum Hals hin in grünliche Tätowierungen verwandeln.

Der Globus-Gips-Kopf, dumme Physiognomie mit lächerlich-rudimentären Sinnesorganen, trägt ein Fresko: Die Tiere im Hirn: Hund, Löwe, Stier, Schlange, Drache, Esel, Papagei, Spinne, Maus – Hirntiere als Motor der ganzen, auf ihren schweinernen Beinen schwankenden Labilitätsanimalität, unter deren After das vom Hirn heraus geschissene Produkt dieses Zeugungsungeheuers steht, die A-Bombe, Selbstvernichtungsmaschine, Schöpfungs-Selbstzurücknahme.

Die dem Kugelkopf aufgegipfelte Krone treibt drei vergoldete Plastiken von Laurens, Wotruba und Giacometti in die Himmelsspitze, die drei Skulpturen setzen einander Lorbeerkränze auf – während unter ihnen, angetrieben vom drohenden Genickschuss, auf einem Kugellagerkreis die nackte Menschheit rotiert.

Die große Bla-Bla-Maschine

Dorisch-maskuline Knickerbockersäulenbeine in Schnürsenkelschuhen. Der Bein-Tempel ist das Tor zum kollektiven Unterkörperweib, darüber ein Bauchladen-Kasten: Durch den hochgeklappten Deckel schauen Augenpaare, darunter hängen Münder, die die Zunge heraus strecken und zurückschnappen, wenn bei der Drehung der Kurbel an der Hüfte zugleich die Hämmer in einer Pianotastenphalanx unter den drei Mundreihen auf eine Holzplatte klappernd niederfallen.

Ein Strahlenkranz goldener Lanzetten und schillernder Pfauenfedern umgibt den Kopf, ein Posaunentrichter. Aus dem Trichter quillt eine Wolke anonymer Porträts. Zwei Engel blasen auf den Schultern der Figur den Blabla-Ton klistierend aus Trichtern in ihren Aftern – während die Doppelarme der tautologischen Unendlichkeitsplapperfigur links und rechts mit beschwörend erhobenen Fingern bedeutungsvoll Sinnleere fuchteln.

Kollektive Altarmaschine oder figurierte Monstranz, self-portable.

Versinken im Alter

In den rostbraunen Tonziegel-Zellen ersäuft das Leben im Wasser der Zeit, das als Rinnenrinnsal zum Grund der Grube fallend den kubischen Brunnenraum, langsam steigend, füllt – der Körper versinkt, das weiße Greisengesicht in hilflos schräger Lage, das halbe Bewusstsein untergetaucht, erschaut durch den schmalen Augenspalt die aufgerissenen Staun-Augen eines Kindes in der unbegriffenen Nachbar-Wasserzelle. Jeder in seiner Zeitzelle. Mühsam winkt die geflutete Hand des Alten, flüstert der kaum geöffnete Mund dem über die trennende Mauer gebeugten Kind zu, dessen Spiegelbild, im Wasser des Sterbenden untergehend, antwortet.


[1] Hans Ludwig Pfeiffer, geboren 30.3.1903 in Rom, gestorben 9.3.1999 in Berlin.