Himmelsspiele

Herr Nipp hatte in der Badewanne gelegen und durch das schräge Dachflächenfenster den Himmel betrachtet. Irgendwann war er wie immer eingeschlafen und wurde schließlich von der Kälte des Wassers rund zwei Stunden später mit Froschhaut geweckt. Es war dunkel draußen, nichts mehr am Himmel zu sehen.

Das Beobachten von Wolken gehört bei Menschen, die sich ein wenig ihrer kindlichen Art erhalten haben, zu den wirklichen Freu- den. In diesen eigentlich nur weißen Formationen aus Wasser- dampf können alle Dinge vorgestellt werden, in ihnen kann der aufmerksame Betrachter seine Phantasien ausleben. Vom Licht werden sie zu Farbwallungen, zu unglaublichen Verläufen, nicht umsonst haben die Maler der Renaissance hier erste Möglichkeiten erkannt, sich von den Gegenständen zu befreien und der reinen Malerei zu widmen. Vor allem in der Alexanderschlacht von Altdorfer kann, wenn die Betrachtung der Wolkenformationen in den Focus genommen wird, erkannt werden, dass hier eine Freude an der rein komponierten Dramatisierung von Farbe vorliegt. Auch die Gemälde des zeitgenössischen südkoreanischen Künstlers Kwang Sung Park thematisieren immer wieder die epische Gela- denheit des Himmels und strapazieren unsere Wahrnehmung bis ins Unerträgliche, was auch schon C.D. Friedrich in seinem „Mönch am Meer“ vorgeworfen worden war. Stellen wir uns den Wolkenbildern, lassen uns mit ihnen Treiben, ihren Veränderungen folgend, blicken einfach von Zeit zu Zeit nach oben, anstatt nur den Boden zu sehen. Seien wir einfach manchmal Hans Guckindieluft oder fliegender Robert, lassen die Gegenwart für Minuten nur außer Acht. Geben wir uns der Schönheit hin. Da wölbt sich eine Formation zu einer Venus auf der Muschel, frei nach Botticelli, oder man bemerkt, dass sich eine düstere Front lauter mordlüsterner Drachen aufbaut. Jungfrauen reiten auf Stieren, das

Lieblingskuscheltier unserer Kindheit grüßt und löst sich in das Auto auf, das wir uns niemals leisten können. In seinem Traktat über die Malerei schreibt da Vinci zwar nur über das Betrachten von Steinen, dies kann jedoch wohl als eher beispielhaft gesehen werden, sicherlich wird auch er beizeiten auf einer Wiese gelegen, dem Spiel der langsam treibenden Wolken zugesehen haben und Herden von Schafen, die Schlachtenbilder, die Physiognomien entdeckt und gezeichnet haben.

Als Herr Nipp spät abends nach seinem längeren Bad in der Bibliotheksbadewanne noch kurz vor Kälte schnatternd die angelaufenen elektronischen Nachrichten der letzten Stunden abrief, fand er zwischen diesen eine Nachricht, die mit Anhang letztlich nur diese Faszination für die Natur des Freundes kundtat. Herr Nipp war so begeistert von dieser Mischung aus Muschel-, Blatt und Quallenform, dass er sofort seine Tageskleidung wieder anlegte und sich mit der Spiegelreflexkamera auf den Weg machte. Über drei Stunden suchte er schöne Himmelsgebilde, konnte jedoch nichts finden.

Erst gegen Morgengrauen wurde ihm deutlich, dass man bei schlechten Lichtverhältnissen einfach nichts sehen kann. Immerhin hatte er in der Zwischenzeit schöne Stunden an der frischen Luft verbracht. Es hatte etwas genieselt und diese besondere Zeit des Tageserwachens mit ihren ganz eigenen Klang hinterließ tiefe Spuren. Das Gefühl einer seltsamen Zeitlosigkeit, eines in den Raum geworfen Seins, einer Symphonie des Übergangs. Und glücklich fotografierte er letztlich nur den grauen Himmel dieses herbstlichen Hochsommertages.

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421