Dirnenlied

 

 

Einst war ich der Tag –

als ich blütenumlacht

im Mädchentraum lag –

nun bin ich die Nacht.

 

Bin die lockende Nacht,

trage Sterne im Haar,

und viel Dunkel gebracht

hat mein Augenpaar.

 

Den Knaben zumeist

biet ich giftige Frucht,

die mit schüchternem Geist

nach Liebe gesucht.

 

Und so bin ich, ich weiß,

all der Mütter Qual,

deren Söhnen mit Fleiß

ich die Seele stahl.

 

Einst war ich der Tag –

als ich blütenumlacht

im Mädchentraum lag –

nun bin ich die Nacht.

 

 

 

***

Vor 50 Jahren starb Margarete Beutler. KUNO gedankt ihrer mit einem Gedicht.

Margarete Beutler war Mitglied der künstlerisch-literarischen Vereinigung »Die Kommenden«, zu der auch Else Lasker-Schüler, Hans Ostwald und Ernst von Wolzogen gehörten. 1902 veröffentlichte Beutler nach Beiträgen in Zeitschriften wie dem »Simplicissimus« ihren ersten Gedichtband und zog von Berlin nach München. Dort trat sie vermutlich beim Kabarett »Die Elf Scharfrichter« auf, arbeitete als Redakteurin der Zeitschrift »Jugend« und war als Übersetzerin tätig. 1908 erschien, protegiert von Christian Morgenstern, ein zweiter Band Neue Gedichte und 1911 der dritte mit dem Titel Leb wohl, Bohème. Ab 1925 lebte Beutler im selbst erworbenen kleinen Blockhaus in Seeheim am Starnberger See unter ärmlichen Verhältnissen.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten lehnte sie den Beitritt in die Reichsschrifttumskammer ab und verzichtete somit auf weitere Veröffentlichungen.

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.