Entwicklungen

Freunde zu haben, ist ein wirklich schönes Ding, vor allem aber ist es schön, wenn diese Freunde eine gewisse Mischung aus ge- meinsamen Interessen und Eigenwilligkeiten mitbringen. Wenn man dann auch Zeit hat, einen Abend und bei Wohnbesuch ein langes Frühstück mit einander zu verbringen, kommt man auf neue Ideen.

Herr Nipp genoss es, wenn sein alter Studienfreund zu Besuch war, meist eine Kombination aus Arbeits- und Freundschafts- besuch, ein wenig Schwelgen in alten Zeiten, das ist unabdingbar, und natürlich der Austausch der neusten Entwicklungen, per- sönlich, beruflich und vor allem künstlerisch-philosophisch-ästhetisch. Manchmal passiert es dann, dass die Bereiche verschwimmen und innerhalb eines Gespräches verwischen die Grenzen zwischen Realität und Wahn und man fragt sich irgend- wann, wie ist das denn nun passiert. Auch dies natürlich nur Spiel.

Der Freund hatte von seinem aktuellen Hobby erzählt. Gefragt, ob es vor Ort wohl ein Spielzeuggeschäfte gebe, in dem man Drachenschnüre kaufen könne. Er sitze seit einigen Wochen abends zu Hause und nähe Flugdrachen, nein, keine mit Gestänge, sondern sogenannte Sledges, die man zusammenfalten könne, die in jede Tasche passen. Irgendwann habe er sich im Urlaub am Strand so ein Gerät gekauft und viel Spaß damit gehabt, irgendwann sei er auch die Idee gekommen im Ein-euro-laden Nylontüten zu kaufen um daraus Drachen selber zu nähen und das mache ihm so viel Freude, dass er das weiter entwickelt hätte und inzwischen kleine Kunstwerke am Himmel zu sehen seien. Im Verlauf des Gesprächs entwickelte man die Vorstellung, demnächst eine Internetseite zu gründen mit dem ansprechenden Titel www.bag-sledges.de. Dort die verschiedenen Schnittmuster als PDF Dateien zu vertreiben, später auch die benötigten Materialien, die Stoffe, Schnüre, das Kleidung mit dem Markenlabel BAGSLEDGE, nach und nach würde die ganze Maschinerie laufen und www.bag-sledges.de würde zu einem Weltkonzern aufsteigen. In allen Ländern würden bag-sledges-conventions abgehalten, ja, sogar eine olympische Disziplin würde sich herauskristallisieren, man würde eine eigene Konkurrenzfirma gründen, denn Konkurrenz belebt das Geschäft. Grundsätzlich würde sich das Gefüge der Menschheit, ihr Lebensgefühl völlig verändern, denn die Menschen würden endlich gen Himmel schauen und die Nase im Wind haben, Glücks- hormone würden produziert, wie nie vorher auf dem Erdenrund. Ja, sogar die bilateralen Auseinandersetzungen wären ein Teil der Vergangenheit, weil der Himmel genügend Platz zum Denken und Glücklichsein bietet.

Als Herr Nipp auf die Uhr schaute, musste er leider feststellen, dass es schon kurz vor zehn Uhr war und der Kurs seines Freundes in wenigen Minuten beginnen würde.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421