Über die Romantiker-WG in Jena
1799 lebten die beiden Brüder, August Wilhelms Ehefrau Caroline sowie Dorothea Veit für ein halbes Jahr zu viert zusammen – im Hinterhaus des Hauses An der Leutra 5 in Jena. Diese „Romantiker- Wohngemeinschaft“ bildete das Kernstück der Jenaer Romantik. Die Autoren brachen mit vielen Konventionen: Beispielsweise mischten sie in ihre Romane Gedichte und Balladen, kleine Märchen etc.; dabei bezogen sie sich oft auf Goethes Werke (Werther, Wilhelm Meisters Lehrjahre). Dem entspricht Friedrich Schlegels Konzept einer progressiven Universalpoesie, die nicht nur unterschiedlichste Gattungen und Wissensgebiete miteinander verbindet, sondern auch über sich selbst nachdenkt und ihre eigene Kritik enthält. In der Romantik wurde mit Friedrich Schlegel der Begriff der Ironie um eine literarische Haltung erweitert, die später als romantische Ironie bezeichnet wurde.
Es gibt keine wahre Aussage, denn die Position des Menschen ist die Unsicherheit des Schwebens. Wahrheit wird nicht gefunden, sondern produziert. Sie ist relativ.
Friedrich Schlegel
Die Gruppe, deren Ziel ein enges Verweben von Leben und Literatur war, erhielt in dieser Zeit häufig Besuch: Mit Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Tieck – dieser erschien mit seinem Schwager August Ferdinand Bernhardi – verband Schlegel eine enge Freundschaft und die gemeinsame Arbeit am Athenaeum. Mit Novalis entwickelte Friedrich Schlegel den Begriff der progressiven Universalpoesie. Auch sein Mitbewohner aus Berliner Tagen, Friedrich Schleiermacher, die in Jena lebende Schriftstellerin Sophie Mereau (wenngleich diese eher dem „Schiller-Kreis“ zuzuordnen ist), deren Geliebter und späterer Ehemann Clemens Brentano sowie die Philosophen Schelling und Fichte frequentierten die Wohngemeinschaft. In den Nächten diskutierten sie über Literatur, Kunsttheorie und Philosophie, tagsüber arbeiteten sie an ihren Texten: Friedrich Schlegel unter anderem an der Lucinde, August Wilhelm und Caroline an den Shakespeare-Übersetzungen.
Über ein Gedicht von Schiller, das Lied von der Glocke, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor Lachen.
Caroline Schlegel
Im August 1800 habilitierte sich Friedrich Schlegel an der Universität Jena und lehrte als Privatdozent. Ein Höhepunkt der Studentenzahlen in Jena zeigte sich im 18. Jahrhundert, als der Ruf der Universität unter Herzog Carl August Lehrende wie Fichte, Schelling, Schiller, Hegel und Friedrich von Schlegel nach Jena zog. Schlegel veröffentlichte seine Ideen (1800), in denen es heißt: „Nur durch Beziehung aufs Unendliche entsteht Gehalt und Nutzen; was sich nicht darauf bezieht, ist schlechthin leer und unnütz“. Schlegel übertrug in seinem Gespräch über die Poesie den Begriff Arabeske als erster auf die Literatur, in der sie eine durch scheinbar chaotische, naturähnliche Strukturen gekennzeichnete Form bezeichnet. An der Universität hielt er die Vorlesung über Transzendentalphilosophie (1801).
Doch dieses Leben dauerte nur einen „Wimpernschlag der Weltgeschichte“ an.
Als sich die Wohngemeinschaft auflöste, verließ er im Dezember 1801 Jena. Schlegel nahm mit Tieck seinen Wohnsitz in Dresden und beide beschäftigten sich mit der Herausgabe von Novalis‘ Werken Die Lehrlinge zu Sais. Auch Heinrich von Ofterdingen, ein Fragment gebliebener Roman von Novalis, der im Laufe des Jahres 1800 entstand, wurde erst 1802 postum von Friedrich Schlegel veröffentlicht. Schlegel begab sich nach einem Aufenthalt zusammen mit Dorothea, die ihn während dieser Zeit durch schriftstellerische Tätigkeit finanziell unterhielt, nach Weimar.
Über keinen Gegenstand philosophieren sie seltner als über die Philosophie.
Novalis
Goethe hielt die Beziehungen auch nach dem Bruch der Schlegels mit Schiller (1797) aufrecht. Er führte Wilhelms Jon (Anfang 1802) und Friedrichs Alarcos (Mitte 1802) auf, wobei es zum Eklat kam, als die Kotzebue-Partei, die sowohl in Dissens zu Goethe als auch zu den Schlegel-Brüdern stand, mit einhellig schallendem Gelächter reagierte. Das „Man lache nicht!“ Goethes half wenig. Aufgrund einer fehlenden psychologischen Motivierung war der Alarcos von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Philosophisch kann man als allgemeines Gesetz für die Geschichte aufstellen, daß die einzelnen Entwicklungen gemäß dem für sie geltenden Gesetze des Ueberspringens in das Gegentheil Gegensätze bilden, in Epochen, Perioden zerfallen, das Ganze der Entwicklung aber einen Kreislauf bildet, in den Anfang zurückkehrt; ein Gesetz, welches allein auf Totalitäten anwendbar ist.
Friedrich Schlegel
In der frühen Phase seines Philosophierens stand Schlegel wie andere Romantiker unter dem Eindruck der Französischen Revolution. In seinem Versuch über den Begriff des Republikanismus kritisiert er die Definition des Republikanismus in Kants Schrift Zum ewigen Frieden und geht weit über diese Definition hinaus. Der Republikanismus müsse notwendig demokratisch sein. Schlegel fordert, dass der „empirische Wille“, also der „Wille der Mehrheit als Surrogat des allgemeinen Willens gelten“ solle, da der a priori gedachte „absolut allgemeine Wille […] im Gebiete der Erfahrung nicht vorkommen kann“. Er legitimiert in besonderen Fällen auch die Insurrektion, also den Aufstand oder die Revolution: Es ließe sich denken, dass in bestimmten Situationen die „konstituierte Macht für de facto annulliert geachtet werden und die Insurrektion also jedem Individuum erlaubt sein soll“, zum Beispiel wenn ein Diktator die Macht auf Dauer usurpiert oder wenn die Verfassung vernichtet wird. Damit wendet er sich implizit auch gegen die nur kurze Zeit später von Kant (in der Metaphysik der Sitten 1797) entwickelte Vorstellung, dass es ein Verbrechen sei, vom allgemeinen Volkswillen legitimierte Gesetze auch nur vorübergehend außer Kraft zu setzen.
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Athenaeum ist der Titel einer Zeitschrift, die zwischen 1798 und 1800 von den Brüdern August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel herausgegeben und in Berlin gedruckt wurde. Vor zweihundert Jahren stellte Friedrich Schlegel das „Athenaeum“ mit der Begründung ein, dass diese Zeitschrift erst in der Zukunft verstanden werden kann. KUNO erinnert daran mit der Begründung des Redakteurs, der im 18. Jahrhundert den modernen Journalismus erfunden hat und ein Ausprobieren von Gegenpositionen vorausgeahnt.
Weiterführend →
Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.